Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. sexueller Missbrauch in der Kindheit. Beweiserleichterung. Glaubhaftmachung. keine Begrenzung auf Tatsachenfeststellungen in der strafgerichtlichen Verurteilung des Täters. GdS-Feststellung. Nachweis der Primärschädigung bei tätlichen Angriffen im Kindesalter nicht erforderlich. posttraumatisches Belastungssyndrom. A-Kriterium auch bei sexuellen Übergriffen auf Kinder. Ankerbeispiele des DSM 5. fehlende Brückensymptome unschädlich. Latenzzeit von 13 Jahren nach fehlender Aufarbeitung möglich
Leitsatz (amtlich)
1. Bei sexuellem Missbrauch in der Kindheit kann ausnahmsweise der Nachweis eines Primärschadens für die Anerkennung als Posttraumatische Belastungsstörung entbehrlich sein.
2. Das zeitliche Auseinanderfallen von sexuellem Missbrauch und Auftreten der speziellen Symptomatik einer Posttraumatischen Belastungsstörung nach einer längeren Latenzzeit ist speziell bei Missbrauch in der Kindheit typisch.
Orientierungssatz
1. Das Gericht ist im Falle des sexuellen Kindesmissbrauchs bei der Feststellung des tätlichen Angriffs iS des § 1 OEG nicht an den Umfang der strafgerichtlichen Feststellungen bei der Verurteilung des Täters gebunden, wenn diese nur auf das Geständnis des Täters gestützt worden und die kindlichen Opfer nicht vor Gericht vernommen worden sind.
2. Im Falle eines sexuellen Kindesmissbrauchs sind die A-Kriterien für die posttraumatische Belastungsstörung auch dann zu bejahen, wenn es sich nicht um lebensbedrohliche Situationen gehandelt hat, aber die Ankerbeispiele der DSM 5 erfüllt sind (hier: wiederholte sexuelle Übergriffe mit Penetrierung und Zungenküssen).
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 14.04.2015 aufgehoben und der Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 08.11.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.08.2013 verurteilt, die Posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolge anzuerkennen und der Klägerin Opferentschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz aufgrund eines Grades der Schädigungsfolgen von 30 ab Antragstellung zu zahlen.
II. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für beide Instanzen.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die 1982 geborene Klägerin stellte am 20.12.2011 beim Beklagten einen Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG, den sie mit den Folgen eines sexuellen Missbrauchs im Alter von 11 bis 12 Jahren durch einen deswegen im Jahr 1994 rechtskräftig verurteilten Täters begründete. Sie leide in der Folge unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung mit Symptomen in Form von Schlafstörungen, Panikattacken, Angstzuständen, Schweißausbrüchen, depressiven Verstimmungen, Ruhelosigkeit, einer chronischen Tonsilitis und Nierenentzündung.
Aus der vom Beklagten beigezogenen Akte der Staatsanwaltschaft Q..., Az.: ..., ergab sich eine rechtskräftige Verurteilung des Täters am 10.08.1994 durch das Amtsgericht Q... wegen acht Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dabei wurde durch das Gericht zugrunde gelegt, dass der Täter Fototermine mit verschiedenen Kindern durchgeführt und im Falle der Klägerin diese an zwei Terminen am Geschlechtsteil und an der unbedeckten Brust berührt hat.
Aus den vom Beklagten beigezogenen medizinischen Unterlagen ergaben sich mehrfach psychotherapeutische Therapien der Klägerin ab 2005. Ausweislich eines Berichtes des Bundeswehrkrankenhauses E... vom 09.06.2009 wurde die Klägerin dort wegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung und Depressionen bei Partnerschaftskonflikt (Trennungssituation der Ehe) behandelt. Therapiethemen seien ein Missbrauch durch einen Fotografen, eine Vergewaltigung im Ferienlager in Tschechien mit 14 Jahren sowie eine Vernachlässigung durch die Mutter gewesen. Sie sei oft bereits im Vorschulalter alleine gelassen worden. Daraus habe sich eine Verlorenheits- und Angstproblematik entwickelt (Dunkelheitsängste, nächtliche Ängste).
In einem Befundbericht von Dipl.-Psych. Dr. D... vom 21.05.2012 dieser berichtete, dass die Vergewaltigung in Tschechien von der Polizei nicht weiterverfolgt worden sei, da die Täterermittlung aussichtslos gewesen sei. Die Klägerin erklärte hierzu, dass sie bei der Tat stark betrunken gewesen sei und keine genaue Erinnerung mehr an den Sachverhalt gehabt habe.
Von 2001 bis 2009 war die Klägerin bei der Bundeswehr beschäftigt. Sie absolvierte bei der Marine eine Ausbildung zur Fernmelde-Unteroffizierin. Im Jahr 2003 heiratete sie. Aus der Krankenkartei ergeben sich ab 2002 psychische Auffälligkeiten. Bezüglich der Einzelheiten wird auf die Krankenkartei verwiesen. Im Jahr 2006 ließ sich die Klägerin scheiden. Seit 2007 ist ...