Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht: Voraussetzung für den Erlass eines Gerichtsbescheides im sozialgerichtlichen Verfahren um die Feststellung eines Grades der Behinderung. Umfang der Pflicht zur Amtsermittlung. Funktionseinschränkungen. Medizinisches Sachverständigengutachten. Geklärter Sachverhalt. Gesetzlicher Richter. Verfahrensmangel. Zurückverweisung des Rechtsstreits. Ermessen
Orientierungssatz
1. Ein Gerichtsbescheid kommt im sozialgerichtlichen Verfahren über die Feststellung eines Grades der Behinderung nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn der Sachverhalt auch in medizinischer Hinsicht geklärt ist. Dabei ist ein Sachverhalt erst dann als geklärt anzusehen, wenn Zweifel hinsichtlich des Sachverhalts ausgeschlossen sind.
2. Einzelfall zum Umfang der Amtsermittlungspflicht im sozialgerichtlichen Verfahren zur Feststellung der Höhe eines Grades der Behinderung (hier: Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht bejaht).
Normenkette
SGG § 103 S. 1, § 105 Abs. 1, § 159 Abs. 1 Nr. 2, § 12 Abs. 1 S. 1, § 124; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2
Tenor
I. Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 11. August 2014 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht Chemnitz zurückverwiesen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 60 ab Antragstellung am 11. April 2012.
Bei der am ... 1979 geborenen Klägerin stellte das Amt für Familie und Soziales Chemnitz mit Bescheid vom 29. Dezember 1999 einen GdB von 20 fest unter Berücksichtigung der Funktionseinschränkung "Hirnschädigung ohne wesentliche Funktionsbeeinträchtigung".
Am 19. Januar 2012 stellte die Klägerin bei dem Beklagten sinngemäß einen Antrag auf Erhöhung des GdB, rückwirkend ab 1997. Hierzu wurden von ihr verschiedene medizinische Unterlagen vorgelegt:
- Befund eines MRT der HWS vom 9. Januar 2012 (Radiologische Praxis Dr. B. in L.)
- Befund eines MRT des Kopfes vom 11. Juli 2005 (R. in C.)
- Befund eines MSCT NNH (nativ) vom 7. Juli 2005 (R. in C.)
- neurologisches Gutachten PD Dr. M. (Chefarzt der Klinik für Neurologie und Klinische Neurophysiologie des S.-Klinikums W.) vom 20. September 1999 sowie ein neuropsychologisches Zusatzgutachten von Dipl.-Psych. J. vom 28. September 1999 - jeweils erstellt für die Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gaststätten.
Ein Befundbericht wurde eingeholt von Dipl.-Med. W. (Praktischer Arzt in L.), der unter dem 16. April 2012 von einem seit 1. Juli 2005 absoluten Geruchsverlust bei Z. n. Sturz mit schwerer Beeinträchtigung der Geschmackswahrnehmung berichtete, von einer von Geburt an schweren Verlaufsform einer Neurodermitis mit generalisierten Hauterscheinungen (insbesondere im Bereich des Gesichtes bei mehrfach intensiver notwendiger Behandlung über das Jahr und dauerhafter Einnahme von Kortikoiden sowie Organbeteiligung - allergisches Asthma -), einer Chondropathia patellae beidseits, einem Impingementsyndrom der Schulter rechts, einer Tachykardie mit anfallsweise auftretenden Rhythmusstörungen, einer neurotischen Depression und einem Asthma bronchiale.
Am 11. April 2012 stellte die Klägerin erneut sinngemäß einen Antrag auf Erhöhung des GdB rückwirkend ab 1. Februar 1979.
Auch hierzu legte sie verschiedene medizinische Unterlagen vor, u. a.:
- Befund eines MRT des rechten Kniegelenkes vom 12. Januar 2010 und eines MRT der rechten Schulter vom 12. Januar 2010 sowie eines MRT der HWS vom 9. Januar 2012 (Radiologische Praxis Dr. B.)
- Arztbrief Dr. S. (Fachärztin für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde in S.) vom 30. November 2005, Diagnose: Geruchsstörung nach Contusion Schädel
- Arztbrief Dr. B. (Fachärztin für Innere Medizin/Kardiologie in S.) vom 22. März 2005; Diagnosen: intermittierende kurzzeitige supraventrikuläre Salven mit komp. Pause und intermittierenden Sinustachykardien - "m. E. kein Anhalt für kardiale Grundkrankheit"
- Arztbrief Dr. K. (Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in G.) vom 31. Mai 2012; Diagnosen: Zustand nach Schädel-Hirn-Trauma infolge eines Arbeitsunfalles 1997, parallel hierzu und vielleicht auch überlappend Symptome und Befunde eines zervikozephalen Syndroms, wiederkehrende depressive Stimmungslage.
Ein Befundbericht wurde eingeholt von Dr. T. (Praxisklinik - S.) vom 26. April 2012 (Die Klägerin habe sich erstmals im Jahr 2000 mit Schmerzen in der HWS und Blockierung der BWS vorgestellt, aktuelle Befunde bezüglich der Funktionsbehinderung der Wirbelsäule lägen nicht vor; weitere Diagnose: Impingementsyndrom beider Schultern), von Dr. A. (Hautärztin in H., vom 31. Mai 2012; Diagnose: numm. Psoriasis vulgaris) und von Dr. W. (Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in S.), der in seinem Befundbericht vom 11. Juni 2012 hinsichtlich der Diagnosen mitgeteilt hat, bei der Klägerin handele es sich um eine Contusio cerebri mit noch leichtem hirnorganischen Psychosyndrom sowie ein...