Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Zurückschiebungshaft zur Verhinderung der Ausreise in ein bestimmtes Land
Leitsatz (amtlich)
1. Die Zurückschiebungshaft (§§ 57 Abs. 3, 62 AufenthG) soll lediglich sicher stellen, dass der unerlaubt eingereiste Ausländer die Bundesrepublik Deutschland verlässt und in das Land zurückkehrt, in das er zurückgeschoben werden darf.
2. An einem Zurückschiebungsgrund fehlt es daher, wenn der Ausländer freiwillig und auf direktem Wege in das Land ausreisen will, in das er zurückgeschoben werden soll. Es ist nicht Sinn und Zweck der Zurückschiebungshaft, die freiwillige Ausreise - sei sie nun legal oder illegal - in genau dieses Land zu verhindern.
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4 GG; VO-(EG) Nr. 343/2003 des Rates v. 18.2.2003 Art. 19 Abs. 4; AufenthG §§ 57, 62; FEVG §§ 3, 7; FGG §§ 20, 22, 27, 29
Verfahrensgang
LG Lübeck (Beschluss vom 05.09.2005; Aktenzeichen 7 T 467/05) |
AG Oldenburg (Oldenburg) (Aktenzeichen 20b XIV 139/05 B178/04 (B)) |
Tenor
Es wird festgestellt, dass die Inhaftierung des Betroffenen in der Zeit vom 24.8.2005 bis zu seiner Zurückschiebung nach Schweden am 20.9.2005 rechtswidrig war.
Die Beteiligte trägt die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen im Erst- und Rechtsbeschwerdeverfahren nach einem Geschäftswert von 3.000 EUR.
Gründe
I. Der Beteiligte ist serbisch-montenegrinischer Staatsangehöriger. Er reiste nach eigenen Angaben erstmals am 1.6.1998 mit seiner Familie in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellt hier am 4.6.1998 einen Asylantrag. Diesen Antrag lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (im Folgenden: BAFL) mit Bescheid vom 5.8.2002 ab, forderte den Betroffenen zur Ausreise aus dem Bundesgebiet auf und drohte ihm die Abschiebung an. Der Bescheid ist seit dem 23.4.2003 rechtskräftig. Es ist ungeklärt, ob der Betroffene danach zunächst in sein Heimatland zurückkehrte. Nach eigenen Angaben lebte er in der Folgezeit jedenfalls etwa zwei Jahre mit seiner Familie in Schweden. Dort stellte er erneut einen Asylantrag. Auf ein Übernahmeersuchen der schwedischen Behörden vom 23.1.2004 erklärte sich das BAFL mit Schreiben vom 11.8.2004 zur Übernahme des Betroffenen und seiner Familie nach der VO (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.2.2003 (Dublin II, Amtsblatt der EU v. 25.2.2003 L 50/1) bereit. Am 23.8.2005 wurde der Betroffene bei einer Pkw-Kontrolle in Puttgarden festgestellt. Er war nicht im Besitze des erforderlichen Passes und eines Aufenthaltstitels für die Bundesrepublik Deutschland. Auf Antrag des Beteiligten hat das AG Oldenburg (in Holstein) mit Beschl. v. 24.8.2005 angeordnet, dass der Betroffene längstens bis zum 23.11.2005 in Abschiebungshaft zu nehmen sei. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Betroffenen hat das LG mit Beschl. v. 5.9.2005 zurückgewiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten der Entscheidungen der Vorinstanzen wird auf die Beschlüsse vom 24.8.2005 (Bl. 31 f. d.A.) und 5.9.2005 (Bl. 50-54 d.A.) Bezug genommen. Gegen den Beschluss des LG hat der Betroffene form- und fristgerecht sofortige weitere Beschwerde eingelegt. Am 20.9.2005 wurde der Betroffene nach Schweden zurückgeschoben. Mit Schriftsatz vom 30.9.2005 begehrt der Betroffene die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft bzw. der Haftfortdauer.
II. Die gem. §§ 106 Abs. 2 S. 1 AufenthG, 3, 7 FEVG, 22, 27, 29, 20 FGG, Art. 19 Abs. 4 GG nach dem Vollzug der Zurückschiebung und der vorangegangenen Haft mit dem Ziel der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Inhaftierung zulässige (BVerfG v. 5.12.2001 - 2 BvR 527/99, NJW 2002, 2456; OLG Hamm FGPrax 2004, 53) sofortige weitere Beschwerde ist begründet.
Die Inhaftierung des Betroffenen für den in den Beschlussformel bezeichneten Zeitraum ist rechtswidrig gewesen. Es hat weder ein Grund für eine Abschiebungshaft nach § 62 AufenthG noch ein Grund für eine Zurückschiebungshaft gem. §§ 57 Abs. 3, 62 AufenthG bestanden.
Eine Abschiebungshaft des Betroffenen ist schon deshalb nicht zulässig gewesen, weil die Bundesrepublik Deutschland nicht mehr für seinen Aufenthalt bzw. für die Abschiebung in sein Heimatland zuständig war. Die Zuständigkeit ist nach Art. 19 Abs. 4 der VO (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.2.2003 (im Folgenden: VO Dublin II) auf Schweden übergegangen. Nach Art. 19 Abs. 4 VO Dublin II geht die Zuständigkeit für den Aufenthalt des Asylbewerbers auf den EG-Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, wenn die Überstellung in den bislang zuständigen Mitgliedstaat nicht innerhalb von sechs Monaten nach Annahme des Antrags auf Übernahme erfolgt ist (vgl. Art. 19 Abs. 3 VO Dublin II). Das BAFL hat die Bereitschaft zur Übernahme des Betroffenen mit Schreiben vom 11.8.2004 erklärt. Eine Überstellung des Betroffenen in die Bundesrepublik Deutschland ist zu keiner Zeit erfolgt.
Die angeordnete Abschiebungshaft konnte auch nicht als Zurückschiebungshaft nach §§ 57 Abs. 3, 62 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG aufrecht erhalten werden. Es kann an dieser Stelle offen ...