Prof. Dr. Stephan Wolf, Bettina Spichiger
Rz. 114
Da die Ehegatten während der Ehe eine wirtschaftliche Gemeinschaft bilden (vgl. Art. 163 ZGB), besteht bei einer vorübergehenden Auflösung des gemeinsamen Haushalts i.S.v. Art. 175 f. ZGB regelmäßig eine volle gegenseitige Unterstützungspflicht (vgl. Rdn 34). Eine solche rechtfertigt sich mit dem Eintritt der Scheidung nicht mehr. Gemäß den seit der Scheidungsrechtsrevision geltenden Grundsätzen der Eigenversorgung auf der einen und der nachehelichen Solidarität auf der anderen Seite besteht ein Anspruch auf nachehelichen Unterhalt nur dann, wenn es einem Ehegatten nicht zuzumuten ist, dass er für den ihm gebührenden Unterhalt unter Einschluss einer angemessenen Altersvorsorge selbst aufkommt (Art. 125 Abs. 1 ZGB). Ob und ggf. in welcher Höhe und für wie lange ein Unterhaltsbeitrag zu leisten ist, bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der folgenden, in Art. 125 Abs. 2 ZGB nicht abschließend aufgelisteten Gesichtspunkte:
▪ |
Aufgabenteilung während der Ehe; |
▪ |
Dauer der Ehe; |
▪ |
Lebensstellung während der Ehe; |
▪ |
Alter und Gesundheit der Ehegatten; |
▪ |
Einkommen und Vermögen der Ehegatten; |
▪ |
Betreuungspflichten; |
▪ |
Ausbildung und Erwerbsaussichten; |
▪ |
voraussichtliche Altersvorsorge. |
Rz. 115
In einem ersten Schritt gilt es, den "gebührenden" Unterhalt der Ehegatten zu bestimmen. Ist die Ehe lebensprägend geworden, durften die Ehegatten auf das Andauern der ehelichen Versorgungsgemeinschaft vertrauen und es besteht ein Anspruch auf Fortführung der während der Ehe gelebten Lebenshaltung bzw. bei ungenügender Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners auf gleichwertige Lebensführung beider Ehegatten. Der nacheheliche Bedarf bestimmt sich bei einer lebensprägenden Ehe nach dem gebührenden Unterhalt gem. Art. 163 ZGB und unter Berücksichtigung der durch die Führung zweier Haushalte anfallenden Mehrbelastung.
Rz. 116
In einem zweiten Schritt ist zu fragen, ob beide Ehegatten in der Lage sind, ihren Unterhalt selbst zu bestreiten (Eigenversorgungskapazität). Sind die vorhandenen und insbesondere aufgrund künftigen Vermögensanfalls aus der Altersvorsorge und dem Ergebnis der güterrechtlichen Auseinandersetzung zu erwartenden Mittel nicht ausreichend, ist die Zumutbarkeit einer (Wieder-)Aufnahme bzw. Ausdehnung der Erwerbstätigkeit zu prüfen. Die Frage der Anrechnung eines solchen hypothetischen Einkommens stellt sich mit Blick sowohl auf den Unterhaltsschuldner als auch auf den Unterhaltsberechtigten. Verbleibt bei einem Ehegatten trotz Ausschöpfung der zumutbaren Eigenversorgungskapazität im Vergleich mit dem letzten ehelichen Lebensstandard ein Manko, ist dessen Unterhaltsbedürftigkeit erstellt. Erweist sich die Eigenversorgung demgegenüber als genügend oder wurde bereits die Lebensprägung der Ehe verneint, ist mit der Scheidung kein wirtschaftlicher Nachteil verbunden. Der maßgebende Unterhalt bemisst sich solchenfalls nach den Verhältnissen, wie sie beim Nichteingehen der Ehe bestünden. Dies erfordert insbesondere den Ausgleich einer allfälligen Karriereeinbusse.
Rz. 117
Ob und in welchem Maß das Versorgungsdefizit eines Ehegatten durch den anderen auszugleichen ist, hängt von dessen Leistungsfähigkeit ab. Wenn die zur Verfügung stehenden Mittel die nun für zwei Haushalte erforderlichen Ausgaben nicht mehr zu decken vermögen, liegt eine Mangellage vor. Diesfalls ist dem unterhaltspflichtigen Ehegatten das Existenzminimum zu belassen. Genügt demgegenüber das vorhandene bzw. erzielbare Einkommen zur Deckung des Gesamtexistenzminimums der Familienmitglieder und verbleibt ein Überschuss, ist dieser grundsätzlich gleichmäßig zu verteilen. Allerdings darf der Unterhaltsbeitrag nicht so hoch ausfallen, dass dem Unterhaltsberechtigten eine höhere als die zuletzt gelebte Lebenshaltung ermöglicht wird. Unterhaltsbeiträge sollen den gebührenden Unterhalt sicherstellen, nicht aber zu einer nachehelichen Vermögensumverteilung führen, indem der berechtigte Ehegatte aus dem Unterhaltsbeitrag über seinen Vorsorgebedarf hinaus Ersparnisse anlegen kann. Verbleibt nach einer großzügigen Bemessung des Grundbedarfs und nach Anrechnung eines erheblichen Überschussanteils für den berechtigten Ehegatten immer noch ein freier Betrag, steht dieser deshalb grundsätzlich dem unterhaltsverpflichteten Ehegatten zu.
Rz. 118
Für die Bemessungsmethoden kann auf die Ausführungen in Rdn 34 f. verwiesen werden.
Rz. 119
Der Unterhaltsbeitrag wird regelmäßig als in Abhängigkeit von der Teuerung variable Rente festgesetzt (Art. 126 Abs. 1 i.V.m. Art. 128 ZGB) und ist angesichts der oftmals möglichen Erlangung genügender Eigenversorgungskapazität des berechtigten Ehegatten häufig zeitlich abgestuft bzw. befristet. Der Unterhaltsanspruch erlischt mit dem Tod der berechtigten oder verpflichteten Person sowie bei Wiederverheiratung des Unterhaltsberechtigten (Art. 130 ZGB). Rechtfertigen es besondere Umstände, ist statt einer Rente die Zusprechung einer Kapitalabfindung möglich (Art. 126 Abs. 2 ZGB).
Rz. 120
Art. 1...