Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Mehrbedarf wegen unabweisbarem laufenden besonderen Bedarf. Fahrtkosten zu ambulanten Arztterminen und Therapien. Beschränkung der medizinisch notwendigen Versorgung durch das Leistungsrecht der Krankenversicherung. verfassungskonforme Auslegung
Leitsatz (amtlich)
1. Unabweisbar kann ein durch eine medizinische Behandlungsmaßnahme ausgelöster Mehrbedarf gegenüber dem Regelbedarf dann sein, wenn die medizinisch notwendige Versorgung durch das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung beschränkt wird, dh wenn notwendige Kosten entstehen, für die die gesetzliche Krankenversicherung allerdings nicht aufzukommen hat. Dies kann auf Fahrtkosten zu ambulanten Arzt- und Therapieterminen zutreffen.
2. Der Gesetzgeber ist bei der aktuellen Ermittlung der Höhe des Regelbedarfs bereits an die Grenze dessen gekommen, was zur Sicherung des Existenzminimums verfassungsrechtlich gefordert ist (vgl BVerfG vom 23.7.2014 - 1 BvL 10/12 = BVerfGE 137, 34, RdNr 121). Es kann von dem Kläger daher nicht verlangt werden, durch Einsparungen an anderer Stelle Mittel beiseite zu legen, die er für die unabweisbaren Fahrtkosten aufwenden könnte.
3. Anknüpfungspunkt für das Merkmal der Erheblichkeit gemäß § 21 Abs 6 SGB II ist letztlich die Frage, ob das menschenwürdige Existenzminimum durch die Mehraufwendungen nicht mehr gewährleistet ist. Dies ist bei Fahrtkosten von rund 32 € pro Monat für einen Alleinstehenden zu bejahen.
Tenor
I. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger einen Sonderbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II in Höhe von 24,80 € für November 2015, 22,80 € für Dezember 2015, 20,80 € für Januar 2016, 28,40 € für Februar 2016, 47,20 € für März 2016, 36,80 € für April 2016, 33,80 € für Mai 2016, 39,60 € für Juni 2016, 3,60 € für Juli 2016, 58,80 € für August 2016, 31,60 € für September 2016 und 35,60 € für Oktober 2016 zu zahlen.
Die Bescheide vom 20. Oktober 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Dezember 2015 werden aufgehoben, soweit sie dem entgegenstehen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
III. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung eines Mehrbedarfes für Fahrtkosten zu Physiotherapie und ambulanten Arztbesuchen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für den Zeitraum November 2015 bis Oktober 2016.
Der 1965 geborene Kläger bezieht Arbeitslosengeld II. Einen Leistungsantrag stellte er erstmals am 29. September 2004. Einen ersten Antrag auf Übernahme von Fahrtkosten zu Physiotherapie und ambulanten Arztbesuchen stellte er am 1. Juli 2014. Der Beklagte lehnte eine entsprechende Kostenübernahme ab. Mit dem Weiterbewilligungsantrag vom 17. Oktober 2015 beantragte der Kläger erneut die Übernahme von Fahrtkosten. Der Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 20. Oktober 2015 Leistungen für November 2015 bis Oktober 2016 in Höhe von monatlich 807,06 € ohne Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für Fahrtkosten. Mit weiterem Bescheid vom 20. Oktober 2015 lehnte er die Übernahme von Sonderbedarfen ab. Der Kläger erhob am 23. November 2015 Widerspruch, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10. Dezember 2015 zurückwies. Mit Bescheid vom 29. November 2015 bewilligte der Beklagte für Januar bis Oktober 2016 monatlich 812,06 € auf Grund der Erhöhung des Regelbedarfes.
Der Kläger hat am 23. Dezember 2015 Klage vor dem Sozialgericht Dresden erhoben. Er trägt im Wesentlichen vor, im Jahr 2010 habe er einen Arbeitsunfall mit einem Knochenbruch erlitten. Im Juni 2013 habe er einen weiteren Knochenbruch im Schienbein erlitten. Er könne schlecht lange Strecken laufen; beide Kniegelenke seien instabil. Der GdB betrage 30. Dem Kläger seien für Fahrten mit seinem Auto zur Physiotherapie/Bewegungsbad und zu ambulanten Arztbesuchen Kosten entstanden. Die Entfernung zur Physiotherapiepraxis betrage 9 km bzw. 1 km. Der Kläger habe vergeblich die Kostenerstattung bei seiner Krankenkasse beantragt. Gegen die Ablehnungsentscheidung habe er erfolglos Klage erhoben. Die Fahrtkosten seien nicht von der Regelleistung gedeckt.
Der Kläger beantragt:
1. Die Bescheide des Beklagten vom 20. Oktober 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Dezember 2015 werden aufgehoben.
2. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger einen Sonderbedarf für Fahrtkosten zur Physiotherapie und ambulanten Arztbesuchen nach § 21 Abs. 6 SGB II in Höhe von 24,80 € für November 2015, 22,80 € für Dezember 2015, 20,80 € für Januar 2016, 28,40 € für Februar 2016, 47,20 € für März 2016, 36,80 € für April 2016, 33,80 € für Mai 2016, 39,60 € für Juni 2016, 3,60 € für Juli 2016, 58,80 € für August 2016, 31,60 € für September 2016 und 35,60 € für Oktober 2016 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verweist auf die Ausführungen in dem angefochtenen Widerspruchsbescheid.
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vom Beklagten ...