Entscheidungsstichwort (Thema)
Bewachung schließt die „Freiwilligkeit” einer Arbeitsaufnahme nicht grundsätzlich aus
Leitsatz (amtlich)
Bei so genannten „Ghettoarbeitsverhältnissen” stellt die Bewachung auf dem Weg zur Arbeitsstelle und bei der Arbeit nicht unbedingt ein maßgebliches Kriterium für so genannte Zwangsarbeit dar.
Tenor
1. Der Bescheid vom 23.04.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.10.2003 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger unter Anerkennung der Beitragszeiten von August 1940 bis Oktober 1942 und unter Berücksichtigung der gesetzlich vorgesehenen Ersatzzeiten eine Regelaltersrente ab 01.07.1997 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
3. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Bewilligung einer Regelaltersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Zwischen den Beteiligten ist insbesondere streitig, ob die unter Bewachung verrichtete Tätigkeit des Klägers eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung darstellt.
Der Kläger wurde am …1915 im Ort S. in Polen geboren. Er ist als Verfolgter des Nationalsozialismus anerkannt. Mit Bescheid vom 22.05.1956 und Bescheid vom 10.09.1956 wurden insgesamt 63 Monate als Verfolgungszeiten anerkannt und entschädigt. Vom Bayrischen Landesentschädigungsamt erhält der Kläger eine laufende Rente wegen Schadens an Körper und Gesundheit nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG).
Am 23.12.1976 beantragte der Kläger erstmals Rente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung. Im damaligen Rentenantrag gab er an, er habe von 1926 bis 1939 als Bäckerlehrling und Geselle im Ort P. und anschließend von 1939 bis 1945 als Zwangsarbeiter und Ghettoarbeiter, sowie als Insasse eines Konzentrationslagers gearbeitet. Mit Bescheid vom 11.07.1978 lehnte die damals zuständige Bundesbahn-Versicherungsanstalt den Rentenantrag des Klägers mit der Begründung ab, die Rente ruhe von Beginn an, weil der Kläger keinen Beitrag zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung geleistet habe (Zeiten in Polen) und sich ständig im Ausland aufhalte. Darüber hinaus seien keine Versicherungszeiten nachgewiesen oder glaubhaft gemacht worden, aus denen eine Rente gezahlt werden könne. Der Kläger legte kein Rechtsmittel gegen diesen Bescheid ein.
Am 26.08.2002 beantragte der Kläger erneut die Gewährung einer Versichertenrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung und begründete seinen Antrag damit, er habe Beitragszeiten im polnischen Ghetto P. T. (Petrikau) zurückgelegt, die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (Ghetto-Gesetz) als Beitragszeiten anzuerkennen seien.
Im Ermittlungsfragebogen der Beklagten gab der Kläger an, er habe von 1940 bis 1942 im Ghetto Petrikau in einer Glasfabrik gearbeitet und hierfür Nahrung und Entgelt erhalten.
Nach Einsichtnahme in die Entschädigungsakte des Klägers lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit Bescheid vom 23.04.2003 mit der Begründung ab, der Kläger habe nach keiner einschlägigen Rechtsgrundlage auf die Wartezeit anrechenbare rentenrechtliche Zeiten zurückgelegt.
Der Kläger habe ein entgeltliches Beschäftigungsverhältnis von 1940 bis 1942 im Ghetto Petrikau behauptet. Er habe angegeben, in einer Glasfabrik gearbeitet und Entgelt und Kost als Entlohnung erhalten zu haben. Anschließend habe er sich, nach den Angaben im Rentenantrag, von 1942 bis 1943 im Ghetto Czestochowa aufgehalten. Nach Einblick in die Entschädigungsakte des Klägers und der dort enthaltenen eidesstattlichen Versicherung ergäbe sich jedoch, dass sich der Kläger von August 1940 bis September 1944 im Ghetto Petrikau befunden habe und er eine Beschäftigung in der Glasfabrik „Karel” außerhalb des Ghettos ausgeübt habe (historisch gesichert muss es Glasfabrik „Kara” heißen). Der Kläger sei unter jüdischer Polizeiaufsicht zu dieser Beschäftigung gebracht worden und sei dort während der Arbeit von der deutschen Polizei bewacht worden. Bei dieser Sachlage müsse davon ausgegangen werden, dass die Voraussetzungen eines freien Beschäftigungsverhältnisses gegen Entgelt im Ghetto bzw. außerhalb des Ghettos, wenn der Wohnsitz im Ghetto beibehalten worden sei, nicht vorgelegen habe, weil der Kläger eine Beschäftigung außerhalb des Ghettos unter Bewachung ausgeübt habe. Dies sei Zwangsarbeit, eine Berücksichtigung von Zwangsarbeiten als Beitragszeiten komme nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen nicht in Betracht.
Auch nach dem ZRBG könne diese Zeit nicht angerechnet werden. Das Gesetz sei nur anwendbar, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen und gegen Entgelt ausgeübt worden sei. Die vom Kläger behaupteten Beitragszeiten seien jedoch nicht freiwillig ausgeübt worden (Zwangsarbeit).
Abgesehen davon habe das Ghetto Petrikau nur bis zum 21.10.1942 bestanden. Das Ghetto Czestochowa habe nur bis zum 08.10.1942 bestanden.
Nach diesen Zeit...