Leitsatz (amtlich)
1. Bei einer Tätigkeit im früher erlernten Beruf kann es überwiegend wahrscheinlich sein, dass diese Tätigkeit auch im Ghetto weiter ausgeübt wurde.
2. Es liegt auch eine Beschäftigung nach dem ZRBG vor, wenn im Entschädigungsverfahren und im Rentenverfahren keine oder ungenaue Angaben zum Entgelt gemacht worden sind, aber nach der Anordnung vom 5.7.1940 ein Entgeltanspruch bestand.
3. Ansprüche nach dem ZRBG sind nicht von der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis abhängig.
Orientierungssatz
Die Bewachung auf dem Weg zur Arbeitsstelle steht einer Tätigkeit aus freiem Willensentschluss nicht entgegen (Anschluss an SG Hamburg vom 17.5.2005 - S 19 RJ 1061/03).
Tenor
1. Der Bescheid vom 02.04.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2003 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Regelaltersrente unter Berücksichtigung einer Beschäftigung im Ghetto Tarnow von Juni 1941 bis Dezember 1942 sowie von verfolgungsbedingten Ersatzzeiten nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmung zu leisten.
3. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin dem Grunde nach.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Leistung einer Altersrente unter Anerkennung einer Beschäftigung im Ghetto.
Die am ....1912 in Tarnow geborene Klägerin lebt seit 1947 in den USA.
Sie ist als Verfolgte anerkannt und nach dem Bundesentschädigungsgesetz – BEG – entschädigt worden.
Im Rahmen des Entschädigungsverfahrens hatte die Klägerin in einer eidesstattlichen Erklärung vom Juni 1956 angegeben, dass, als die Deutschen nach Polen gekommen seien, sie sofort verpflichtet gewesen sei, eine Armbinde zu tragen. Sie sei gezwungen worden, zu arbeiten und habe ab 1940 Zwangsarbeit für deutsche Behörden, Militäruniformen, machen müssen.
Von 1941 – 1943 habe sie im Ghetto Tarnow gelebt. Sie habe „außer dem Ghetto gearbeitet unter Aufsicht von einem SS- Beamten“. Danach sei sie in verschiedene Konzentrationslager gekommen, im September 1943 in das KZ Plaszow, im Oktober 1944 in das KZ Auschwitz, im Januar 1945 nach Bergen- Belsen, im Februar 1945 Glenau und im April 1945 nach Mauthausen.
In einer weiteren Erklärung vom Oktober 1956 hatte die Klägerin unter anderem erneut bestätigt, dass sie außerhalb des Ghettos unter Aufsicht eines SS-Beamten, die immer dort waren, habe arbeiten müssen.
Die Zeugin R. H. hatte in einer Erklärung vom 29.10.1956 die Angaben der Klägerin bestätigt und angegeben, dass „ in June 1942 the ghetto in Tarnow was closed We had to leave for work with police escorts as well as with Jewish and German police…“.
In einem nervenärztlichen Gutachten vom Juni 1961 wird beschrieben, dass die Klägerin nach eigenen Angaben eine Ausbildung als Schneiderin absolviert habe. Im Ghetto habe sie weiter etwa 8 Monate als Schneiderin gearbeitet. An alle anderen Einzelheiten im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg, an die Arbeiten in den Konzentrationslagern wie in einer Munitionsfabrik, habe sich die Klägerin nur anhand von Aufzeichnungen erinnern können. Alles andere sei unklar und schattenhaft für sie.
Am 4.10.2002 beantragte die Klägerin die Leistung einer Altersrente unter Berücksichtigung der Beschäftigung im Ghetto Tarnow. Im Fragebogen der Beklagten gab die Klägerin folgendes an: „tailor, manufactures military uniforms, money and food“.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 2.4.2003 ab mit der Begründung, die Klägerin habe nach eigenen Angaben außerhalb des Ghettos unter Bewachung gearbeitet. Hieraus ergebe sich kein Hinweis darauf, dass die Klägerin die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss ausgeübt habe.
Der Widerspruch vom 09.05.2003, mit welchem der Bevollmächtigte der Klägerin darauf verwies, dass unter Beschäftigung im Ghetto auch eine Tätigkeit gemeint sei, die außerhalb des Ghettos ausgeübt worden sei und es sich bei Tätigkeiten der jüdischen Arbeitskolonnen um begehrte Tätigkeiten gehandelt habe, blieb erfolglos und wurde mit Widerspruchsbescheid vom 24.10.2003 zurückgewiesen. Die Beklagte verblieb bei ihrer Ansicht, dass kein Anhalt für eine Tätigkeit aus eigenem Willensentschluss vorliege.
Mit ihrer Klage vom 24.11.2003 verfolgt die Klägerin ihren Anspruch weiter. Sie gibt an, bis zum Beginn der Verfolgung angestellte Schneiderin gewesen zu sein. Sie habe dann im Ghetto weiterhin als Schneiderin gearbeitet, und zwar in einer außerhalb des Ghettos in der N.-Straße gelegenen Uniformschneiderei. Sie habe Sachbezüge und einige Zloty erhalten. Aufsicht sei von einem Mitarbeiter des Wirtschafts- und Verwaltungsamtes oder des NS- Kraftfahrerkorps geführt worden.
Sie habe das Ghetto nur unter Aufsicht verlassen.
Entgeltlich sei die Arbeit gewesen, da die Klägerin Zloty für ihre Arbeit erhalten habe, wie angestellte Schneiderinnen. Im übrigen sei zu berücksichtigen, dass nach den Richtlinien vom 05.07.1940, der Verordnung vom 15.12.1941 und rückschauend aufgrund der Schreiben des SSPF Galizien vom 23.10.1942 und vom 6.11.1942 ein Lohnanspruch bestanden habe. In...