Dr. Holger Niehaus, Dr. Peter Kotz
Das Wichtigste in Kürze:
1. |
§ 449, wonach Urteile nicht vollstreckt werden können, bevor sie rechtskräftig sind, gilt im Jugendstrafverfahren nach § 56 Abs. 1 JGG nicht uneingeschränkt. |
2. |
Die Entscheidung über eine Teilvollstreckung ergeht durch Beschluss des Rechtsmittelgerichts. |
3. |
Gegen diesen Beschluss ist das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde gegeben. |
4. |
Auch ohne Beschluss nach § 56 Abs. 1 JGG ist die Vollstreckung bei der Einbeziehung von rechtskräftigen Verurteilungen nach § 31 Abs. 2 JGG möglich. |
Rdn 898
Literaturhinweise:
Nöding, Verteidigung in Jugendstrafsachen, 2023
Nothacker, Zur Teilvollstreckung einer einheitlichen Jugendstrafe (§ 56 JGG), MDR 1982, 278
s.a. die Hinw. bei → JGG-Besonderheiten, Allgemeines, Teil A Rdn 603.
Rdn 899
1.a) § 449, wonach Urteile nicht vollstreckt (allgemein zur Vollstreckung der Jugendstrafe Burhoff/Kotz/Schimmel, Nachsorge, Teil B Rn 810 ff.) werden können, bevor sie rechtskräftig sind, gilt im Jugendstrafverfahren nicht uneingeschränkt. Ist ein Jugendlicher wegen mehrerer Straftaten zu einer Einheitsjugendstrafe (→ JGG-Besonderheiten, Entscheidungsergänzung, nachträgliche, Teil A Rdn 753 ff.) verurteilt worden, so können im Rechtsmittelverfahren gem. § 56 Abs. 1 JGG Teile der Jugendstrafe für vollstreckbar erklärt werden, sofern die Schuldfeststellungen zu einzelnen der verurteilten Taten nicht mit dem Rechtsmittel angegriffen wurden. Voraussetzung hierfür ist nach § 56 Abs. 1 S. 2 JGG, dass diese Teilvollstreckung dem "wohlverstandenen Interesse des Angeklagten entspricht", was vor allen dann der Fall sein kann, wenn sich der Jugendliche in Untersuchungshaft befindet und keine realistische Chance besteht, im Rechtsmittelverfahren die Verhängung unbedingter Jugendstrafe gänzlich zu vermeiden oder zumindest den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen; der Jugendliche würde dann ohne die Teilvollstreckung in Untersuchungshaft sitzen und Aufnahmebehandlung, Vollzugsplanung unnötig verzögern, was wiederum die Chancen auf eine frühzeitige Reststrafenaussetzung verringert (Nöding, Rn 436).
Rdn 900
Teilweise wird vertreten, die Teilvollstreckung soll schon dann zulässig sein, wenn nur die Rechtsfolgen angefochten wurden, d.h. sämtliche Schuldfeststellungen in Rechtskraft erwachsen sind (BeckOK JGG-Kunkel, § 56 Rn 15; MüKo-StPO/Kaspar, JGG, § 56 Rn 8a; D/S/S-Schatz, § 56 Rn 11; Streng, Rn 592). Diese den Wortlaut der Vorschrift missachtende erweiterte Auslegung ist abzulehnen (ebenso Brunner/Dölling, § 56 Rn 3, Eisenberg/Kölbel, § 56 Rn 10).
☆ Die Möglichkeit der Teilvollstreckung ist vom Verteidiger unbedingt in die Überlegung einzubeziehen , ob das Rechtsmittel beschränkt oder unbeschränkt eingelegt werden soll.Überlegung einzubeziehen, ob das Rechtsmittel beschränkt oder unbeschränkt eingelegt werden soll.
Rdn 901
b) Die Vorschrift ist anwendbar auf Jugendliche, auch wenn sie von einem allgemeinen Gericht verurteilt wurden (§ 104 Abs. 1 Nr. 7 JGG), auf Heranwachsende dann, wenn materielles Jugendstrafrecht auf sie angewendet wurde (§ 109 Abs. 2 JGG).
Rdn 902
2. Die Entscheidung ergeht durch Beschluss. Den Beschluss trifft das Rechtsmittelgericht (Jugendkammer als Berufungsgericht, OLG oder BGH als Revisionsgericht).
Rdn 903
3. Gegen diesen Beschluss ist das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde gegeben (§ 56 Abs. 2 JGG). Wegen der instanziellen Rechtsmittelbeschränkung (→ JGG-Besonderheiten, Rechtsmittelbeschränkungen, Teil A Rdn 812 ff. ist die Beschwerde gegen Teilvollstreckungsentscheidungen des OLG oder des BGH als Rechtsmittelgericht dagegen unzulässig (D/S/S-Schatz, § 56 Rn 20; Brunner/Dölling, § 56 Rn 7; BeckOK JGG-Kunkel, § 56 Rn 21); die sofortige Beschwerde findet insofern faktisch nur gegen die Entscheidung der Jugendkammer als Berufungsgericht statt. Eine weitere Beschwerde gem. § 310 ist unzulässig (→ Beschwerde, sofortige Beschwerde, Teil A Rdn 550, und → Beschwerde, weitere Beschwerde, Teil A Rdn 572).
Rdn 904
Die sofortige Beschwerde hat entgegen § 307 Abs. 1 aufschiebende Wirkung (D/S/S-Schatz, § 56 Rn 20; Eisenberg/Kölbel, § 56 Rn 14; Ostendorf/Ostendorf/Drenkhahn, § 56 Rn 12; Brunner/Dölling, § 56 Rn 8; Streng, Rn 592; Laubenthal/Baier/Nestler, Rn 415). Dies wird aus dem Grundgedanken des § 449 abgeleitet.
☆ Trotz der h.M. sollte der Verteidiger immer einen Antrag nach § 307 Abs. 2 stellen.Antrag nach § 307 Abs. 2 stellen.
Rdn 905
4. Auch ohne Beschluss nach § 56 Abs. 1 JGG ist die (Teil-)Vollstreckung bei der Einbeziehung von rechtskräftigen Verurteilungen nach § 31 Abs. 2 JGG möglich (→ JGG-Besonderheiten, Entscheidungsergänzung, nachträgliche, Teil A Rdn 755). Die einbezogenen Jugendstrafen sind bereits rechtskräftig und isoliert so lange vollstreckbar, bis die Entscheidung über die Einheitsjugendstrafe selbst rechtskräftig ist (BVerfG, Beschl. v. 19.3.2001 – 2 BvR 430/01, NStZ 2001, 447; OLG Karlsruhe, Urt. v. 26.1.1981 – 1 Ss 329/80, MDR 1981, 519; Eisenberg/Kölbel, § 56 Rn 11; Ostendorf/Ostendorf, § 31 Rn 23; a.A. Nothacker MDR 1982, 278).
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