1. Feststellung der Behinderung
Nach § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX in der bis 29.12.2016 geltenden Fassung stellten auf Antrag des behinderten Menschen die Versorgungsämter das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung (GdB) fest. Bei der Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft handelt es sich um eine Statusentscheidung, die in einer Vielzahl von Lebensbereichen die Inanspruchnahme von Vorteilen und Nachteilsausgleichen ermöglichen soll, z.B. im öffentlichen Nahverkehr, im Steuerrecht etc. Ungeregelt war bislang der Zeitpunkt, auf den sich diese Feststellung beziehen sollte. Alternativ kamen u.a. der Zeitpunkt des Vorliegens der maßgeblichen Behinderung oder der Zeitpunkt der Antragstellung in Betracht. In der Praxis war auf Letzteres im Regelfall die Feststellung tatsächlich auch bezogen. Nur dann, wenn der behinderte Menschen ein besonderes Interesse glaubhaft machte, wurde die Möglichkeit einer rückwirkenden Feststellung anerkannt (vgl. dazu BSG, Urt. v. 7.4.2011 – B 9 SB 3/10 R, Behindertenrecht 2011, S. 182 ff.).
Mit dem BTHG ist § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX geändert worden. Danach sind das Vorliegen einer Behinderung und der Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung festzustellen. Die bislang nur richterrechtlich ausgeformte Ausnahme wurde in Satz 2 der Norm aufgenommen (BT-Drucks 18/9522, S. 313): Danach kann auf Antrag festgestellt werden, dass ein Grad der Behinderung oder gesundheitliche Merkmale bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen haben, wenn dafür ein besonderes Interesse glaubhaft gemacht wird.
Praxishinweis:
Bei dem "besonderen Interesse" handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der auszulegen ist. Eine nähere Bestimmung, z.B. durch einen Katalog von Regelbeispielen, hat der Gesetzgeber nicht vorgenommen. Für die anwaltliche Praxis ist dies durchaus von Vorteil. So kann im Einzelfall, ohne an gesetzliche Vorgaben gebunden zu sein, ein besonderes Interesse gegenüber der Versorgungsverwaltung dargelegt und begründet werden, zumal die Feststellung des GdB und die Schwerbehinderteneigenschaft tatsächlich in einer Vielzahl von zum Teil auch landesrechtlich geregelten Konstellationen für die Inanspruchnahme eines Nachteilsausgleichs von Bedeutung ist.
Für die Frage, was ein besonderes Interesse begründen kann, kann allerdings sicherlich auf die bereits höchstrichterlich entschiedenen Fallgestaltungen zurückgegriffen werden. Ein besonderes Interesse wurde beispielswiese bejaht, wenn bei rückwirkender Feststellung die Möglichkeit des Bezugs einer abschlagsfreien Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung besteht (vgl. BSG, Urt. v. 29.11.2007 – B 13 R 44/07 R) oder konkrete Steuervorteile in Anspruch genommen werden sollen, z.B. wenn ein Steuerbescheid für einen Zeitraum in der Vergangenheit noch nicht ergangen oder nicht bestandskräftig ist (vgl. dazu nur BSG, Urt. v. 16.2.2012 – B 9 SB 1/11 R).
Hinweis:
Rein affektive Interessen, z.B. als Behinderter "anerkannt" zu werden, werden also auch künftig nicht ein besonderes Interesse begründen können. Darauf, ob die Schwerbehinderteneigenschaft in der Vergangenheit "offensichtlich" vorgelegen hat, kommt es nicht an.
2. Stärkung der Schwerbehindertenvertretung
a) Verbesserter Kündigungsschutz schwerbehinderter Menschen
Eine Gesetzesänderung ist für die Rechte schwerbehinderter Menschen, die erwerbstätig sind, von besonderer Bedeutung: Die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen ist nunmehr ohne die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung (vgl. dazu § 94 SGB IX) unwirksam (§ 95 Abs. 2 S. 3 SGB IX), d.h. die Kündigung beendet in diesen Fällen das Arbeitsverhältnis nicht. Bislang war für den Fall, dass die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung unterblieben war, lediglich die Durchführung oder Vollziehung der getroffenen Entscheidung auszusetzen und die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung binnen sieben Tagen nachzuholen (§ 95 Abs. 2 S. 1 SGB IX a.F.). Auf die Wirksamkeit der Kündigung hatte die fehlende Beteiligung hingegen keine Auswirkungen. Zur Begründung dieser Neuregelung hat der Gesetzgeber zutreffend darauf hingewiesen, dass gerade für schwerbehinderte Menschen der Bestand ihres Arbeitsverhältnisses von herausragender Bedeutung und die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung damit von besonderer Wichtigkeit ist (BT-Drucks 18/10523, S. 67).
Da der Gesetzeswortlaut von "Kündigung" spricht, sind alle Arten von Kündigung erfasst, also neben der fristgerechten auch die fristlose oder eine Änderungskündigung (§ 2 KSchG).
"Beteiligung" der Schwerbehindertenvertretung bedeutet nach § 95 Abs. 3 S. 1 SGB IX, dass der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung unverzüglich, also ohne schuldhaftes Zögern, und umfassend zu unterrichten und vor der Entscheidung anzuhören hat; ebenso hat er ihr die getroffene Entscheidung unverzüglich mitzuteilen. "Unverzüglich" bedeutet, dass der Arbeitgeber in dem Zeitpunkt, in dem er sich zur Kündigung entschlossen hat, die Schwerbehindertenvertretung zu unterrichten hat; nur dann ist davon auszugehen, dass ein schuldhaftes Zögern nicht vorliegt. Da die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretun...