Die Frage, ob eine Verteidigerbestellung auch nach Abschluss des Verfahrens (meist nach Einstellung gem. § 154 Abs. 2 StPO), also rückwirkend, erfolgen kann, war bereits vor der Reform des Rechts der Pflichtverteidigung heftig umstritten, und sie ist es immer noch, nachdem der Gesetzgeber diesen Punkt nicht explizit geregelt hat.
Nach richtiger Ansicht ist auch hier die Intention der Reform, den Beiordnungszeitpunkt in das Ermittlungsverfahren vorzuverlagern, was ja gerade zur Neufassung des § 141 Abs. 1 StPO geführt hat, zu berücksichtigen (vgl. LG Mannheim, Beschl. v. 26.3.2020 – 7 Qs 11/20). Diesen Punkt haben inzwischen zahlreiche Amts- und Landgerichte sowie jüngst mit dem OLG Nürnberg (Beschl. v. 6.11.2020 – Ws 962/20) auch ein Obergericht in überzeugenden Entscheidungen aufgegriffen und lassen eine rückwirkende Verteidigerbestellung jedenfalls dann zu, wenn gegen das Unverzüglichkeitsgebot des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO verstoßen wird (so z.B. auch LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 4.5.2020 – JK II Qs 15/20 jug.). Auch wird insoweit zutreffend darauf hingewiesen, dass dem Beschuldigten sein gegen die Ablehnung der beantragten Beiordnung zustehendes Rechtsmittel (§ 142 Abs. 7 StPO) nicht genommen werden dürfe, indem das Gericht schlicht untätig bleibt (LG Aurich, Beschl. v. 5.5.2020 – 12 Qs 78/20; LG’Wiesbaden, Beschl. v. 4.3.2020 – 1 Qs 8/20 und 1 Qs 10/20).
Hinweis:
Voraussetzung für eine nachträgliche Bestellung ist hiernach, dass der Beiordnungsantrag rechtzeitig vor’Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen des § 140 StPO vorlagen und die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge, auf die der Beschuldigte keinen Einfluss nehmen’konnte, unterblieben ist (LG Hechingen, Beschl. v. 20.5.2020 – 3 Qs 35/20; AG Frankfurt, Beschl. v.’30.3.2020 – 3610 Js 242150/19 – 931 Gs).
Zudem wird in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung zutreffend darauf hingewiesen, dass auch § 141 Abs. 2 S. 3 StPO es nicht zulässt, einen gestellten Beiordnungsantrag einfach liegen zu lassen. Die Vorschrift gewährt zwar die Möglichkeit, von einer Bestellung abzusehen, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registereinkünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen. Diese Norm bezieht sich aber, wie schon aus ihrem Wortlaut ersichtlich wird, ausschließlich auf die Fälle des § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und Nr. 3 StPO, mithin auf Beiordnungen von Amts wegen (LG Freiburg, Beschl. v. 26.8.2020 – 16 Qs 40/20; LG Frankenthal, Beschl. v. 16.6.2020 – 7 Qs 114/20; LG Mannheim, Beschl. v. 26.3.2020 – 7 Qs 11/20). Beiordnungen auf Antrag des Beschuldigten nach § 141 Abs. 1 StPO sind dagegen gerade nicht erfasst (vgl. LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 27.8.2020 – 3 Qs 121/20). Auch eine entsprechende Anwendung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO kommt nicht in Betracht (LG Magdeburg, Beschl. v. 24.7.2020 – 25 Qs 65/20). Insoweit fehlt es bereits an einer planwidrigen Regelungslücke.
Hinweis:
Entschieden ist der Streit um die nachträgliche Beiordnung allerdings trotz der vorgenannten Entscheidungen nicht, gibt es doch insb. auf Ebene der Oberlandesgerichte nach wie vor Stimmen, die sich’gegen eine rückwirkende Verteidigerbestellung stemmen.
Überzeugend ist dies freilich nicht, erst recht wenn die gesetzliche Neuregelung und die damit verbundene Intention des Gesetzgebers, der ein „Liegenlassen” von Beiordnungsanträgen gerade verhindern wollte, in einer eines Obergerichts unwürdigen Weise ignoriert werden. Ein unerfreuliches Beispiel hierfür ist eine Entscheidung des OLG Brandenburg (Beschl. v. 9.3.2020 –1 Ws 19/20 und 20/20), in dem die dort vertretene Auffassung, dass eine nachträgliche Bestellung nicht zulässig sei, zwar mit einer Vielzahl von Fundstellen untermauert wird, die aber allesamt zwischen sieben und knapp 22 Jahre (!) alt sind. Eine Auseinandersetzung mit der Gesetzesreform, geschweige denn mit der Gegenauffassung zahlreicher Amts- und Landgerichte, findet hingegen nicht einmal im Ansatz statt.
Hinweis:
Soweit in derartigen Entscheidungen immer wieder ausgeführt wird, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erfolge „nicht im Kosteninteresse eines Angeklagten oder um dem Verteidiger einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen” (OLG Brandenburg a.a.O.), verkennt dies, dass die der Reform der Pflichtverteidigung zugrundeliegende sog. Prozesskostenhilferichtlinie in Art. 4 auch die Bezahlung des Rechtsbeistands gesichert sehen will (so zutr. OLG Nürnberg, Beschl. v. 6.11.2020 – Ws’962/20).
Dass es auch anders geht, zeigt eine sorgfältig begründete Entscheidung des Amtsgerichts Stuttgart (Beschl. v. 16.10.2020 – 26 Gs 8477/20), in der zutreffend darauf hingewiesen wird, dass eine rückwirkende Bestellung auch zur Gewährleistung eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens notwendig ist. Müsste dagegen der Verteidiger trotz Vorliegens der Beiordnungsvoraussetzungen sowie einer rechtzeitigen Antragstellung befürchte...