1. Allgemeines
Die Wiederaufnahme ist nur gegen rechtskräftige Urteile, rechtskräftige Strafbefehle und in analoger Anwendung der §§ 359 ff. StPO, gegen Beschlüsse statthaft. (Burhoff/Kotz/Amelung/Werning, RM, Teil B Rn 1412 ff.). Sie kann sich dagegen nicht gegen einen rechtskräftigen Bewährungswiderruf (OLG Düsseldorf StraFo 2004, 146; OLG Stuttgart NStZ-RR 1996, 176; wistra 2001, 239) richten. Sie ist auch nicht im Verfahren nach § 109 StVollzG anwendbar (OLG Hamburg NStZ 2001, 391), wenn das Urteil noch mit der Revision angegriffen werden kann (LG Göttingen, Beschl. v. 25.8.2005 – 8 KLs 4/04) oder wenn das Ziel lediglich die nachträgliche Anwendung der sog. Vollstreckungslösung ist (OLG Celle NStZ-RR 2010, 386).
Wiederaufnahmeverfahren können zugunsten oder zuungunsten des Verurteilten/Abgeurteilten durchgeführt werden (zu den Besonderheiten im Wiederaufnahmeverfahren von Jugendlichen und Heranwachsenden Burhoff/Kotz/Schimmel, RM, Teil A Rn 1022 ff.). Daneben ist die Wiederaufnahme eines Strafbefehlsverfahrens möglich, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die geeignet sind, eine Verurteilung wegen eines Verbrechens herbeizuführen (§ 373a StPO; zur Aufklärungspflicht im Wiederaufnahmeverfahren gegen einen rechtskräftigen Strafbefehl BVerfG, NZV 2016, 45).
2. Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten (§ 395 StPO)
Die Wiederaufnahmegründe zugunsten des Verurteilten sind in § 395 StPO geregelt. Dort sind folgende Wiederaufnahmegründe vorgesehen:
a) Unechte oder verfälschte Urkunde (Nr. 1)
Der Antragsgrund nach § 359 Nr. 1 liegt ggf. vor, wenn in der Hauptverhandlung, die Grundlage der rechtskräftigen Verurteilung war, zuungunsten des Verurteilten eine Urkunde als echt angesehen worden ist, die tatsächlich aber unecht oder verfälscht war (wegen der Einzelh. Burhoff/Kotz/Amelung/Werning, Teil B Rn 1179 ff.). Nach. h.M. gilt der materielle Urkundenbegriff des § 267 StGB (Meyer-Goßner/Schmitt, § 359 Rn 4 m.w.N.; Burhoff/Kotz/Amelung/Werning, Teil B Rn 1183 m.w.N.). Verfälscht ist eine Urkunde, wenn die bereits fixierte Gedankenerklärung in eine andere verändert, also die Beweisrichtung geändert wird (BGH GA 1963, 17). Dies ist selbst dann der Fall, wenn der Inhalt dadurch erst inhaltlich "wahr" wird (Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 267 Rn 33). Unecht ist die Urkunde, wenn sie ausgestellt wird, als sei sie von einer anderen Person, also eine Identitätstäuschung vorliegt (Fischer, a.a.O., § 267 Rn 27), also über die Person des Ausstellers getäuscht wird.
Die Urkunde muss in der Hauptverhandlung zum Beweis für ihren Inhalt verwendet (vgl. §§ 249, 251, 256 StPO) und durch Verlesung (§ 249 Abs. 1 u. 2 StPO) ordnungsgemäß in den Prozess eingeführt worden sein, denn nur dann ist sie als echt vorgebracht worden. Sofern nicht verlesbar, muss die Urkunde in Augenschein genommen worden sein. Allein ein Vorhalt genügt nicht (Meyer-Goßner/Schmitt, § 359 Rn 7). Es muss zudem nicht auszuschließen sein, dass die Urkunde das Urteil zum Nachteil des Angeklagten beeinflusst hat.
b) Verletzung der Eidespflicht durch Zeugen/Sachverständigen (Nr. 2)
Nach § 359 Nr. 2 StPO kann das Verfahren wieder aufgenommen werden, wenn sich ein Zeuge durch seine Aussage bzw. ein Sachverständiger durch sein Gutachten wegen Meineids oder uneidlicher Falschaussage schuldig gemacht hat. Die falsche Aussage muss nach den §§ 153, 154, 155, 161 StGB strafbar gewesen sein (Meyer-Goßner/Schmitt, § 359 Rn 11). Entscheidend ist, dass die Aussage, die sich im Nachhinein als falsch herausgestellt hat, Grundlage der Beweiswürdigung war und sich zuungunsten des Verurteilten ausgewirkt haben kann (vgl. BGHSt 31, 365, 371 [Ablehnung hinsichtlich der Wiederaufnahme des Reichstagsbrandprozesses von 1933]; wegen weiterer Einzelh. Burhoff/Kotz/Amelung/Werning, RM, Teil B Rn 1207 ff.).
c) Amtspflichtverletzung eines Richters oder Schöffen (Nr. 3)
Für eine Wiederaufnahme nach § 359 Nr. 3 StPO muss die Amtspflichtverletzung des Richters oder Schöffen strafbar sein und sich auf die Strafsache gegen den Angeklagten beziehen (Burhoff/Kotz/Amelung/Werning, RM, Teil B Rn 1100 ff. m.w.N.). Die Pflichtverletzung muss in der Instanz begangen worden sein, deren (Sach-)Entscheidung in Rechtskraft erwachsen ist. Wird etwa in der Berufungsinstanz oder im Fall einer Zurückweisung aufgrund erfolgreicher Revision der Sachverhalt erneut festgestellt, erfassen die Vorschriften nicht mehr die strafbare Amtspflichtverletzung in der vorangegangenen Instanz (BGHSt 31, 365). In Betracht kommen hier Rechtsbeugung (§ 339 StGB) und/oder Vorteilsannahme und Bestechlichkeit (§§ 331 f. StGB). Die Wiederaufnahme ist nach dem Wortlaut der § 359 Nr. 3 StPO ausgeschlossen, wenn der Angeklagte die Pflichtverletzung selbst veranlasst hat.
d) Aufhebung eines Zivilurteils (Nr. 4)
§ 359 Nr. 4 StPO regelt die Wiederaufnahme nach Aufhebung eines Zivilurteils, das dem Strafurteil zugrunde lag. Neben Zivilurteilen sind über den Wortlaut der Norm hinaus auch arbeits-, sozial-, finanz- und verwaltungsgerichtliche Urteile erfasst (h.M., Meyer-Goßner/Schmitt, § 359 Rn 17), nicht hingegen Strafurteile (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.; zur Frage, ob aufgehobene Verwaltungsakte unter § 359 Nr. 4 StPO fallen, s. Burhoff/Kotz/Amelung/Werning, RM, Teil B Rn 11955 ff.).Das Strafurteil gründete auf ...