a) Berechnung
Einen Anspruch auf Einhaltung der Ladungsfrist, die vor Überraschungsverfahren schützen soll (BGH, Beschl. v. 18.5.1971 – 3 StR 10/71, BGHSt 24, 143 = NJW 1971, 1278), haben der Angeklagte (§ 217 Abs. 1 StPO) und sein Verteidiger (§§ 218 S. 2, 217 Abs. 1 StPO) in dem Umfang, in dem ihnen gegenüber eine Ladungspflicht besteht, weil dadurch jeweils ausreichend Zeit für die Vorbereitung eingeräumt werden soll. Eingehalten werden muss die Frist des § 217 Abs. 1 StPO aber nur für die Ladung zum ersten Hauptverhandlungstag in 1. Instanz und wenn das Urteil durch das Revisionsgericht aufgehoben und die Sache an das Tatgericht zurückverwiesen wurde.
Die Ladungsfrist beträgt gem. § 217 Abs. 1 StPO mindestens eine Woche. Diese Mindestfrist soll dem Angeklagten genügend Zeit für die Vorbereitung seiner Verteidigung gewähren (BGH, 1971, a.a.O.). Da es sich somit um eine den Schutz des Angeklagten bezweckende Vorschrift handelt, kann der Angeklagte – auch gegen den Widerstand seines Verteidigers – auf die Einhaltung der Ladungsfrist verzichten (KK-Gmel, § 217 Rn 8; a.A. Rieß, NJW 1977, 883). Der Verzicht des Angeklagten auf die Einhaltung der Ladungsfrist beinhaltet aber nicht vorab schon den Verzicht auf die Rüge, dass im Fall der notwendigen Verteidigung die Hauptverhandlung ohne Pflichtverteidiger stattgefunden hat (§ 338 Nr. 5 StPO; OLG Hamm, Beschl. v. 4.3.1998 – 2 Ss 201/98, StraFo 1998, 164, 269).
Aus dem Wortlaut des § 217 Abs. 1 StPO – „zwischen” – ist abzuleiten, dass bei der Fristberechnung der Tag der Zustellung und der Tag, an dem die Hauptverhandlung stattfinden soll, nicht mitgerechnet werden. § 43 Abs. 2 StPO gilt nicht (Meyer-Goßner/Schmitt, § 217 Rn 2). Fallen in die Wochenfrist aber mehrere Feiertage, kann darin eine Behinderung der Verteidigung liegen (KK-Gmel, § 217 Rn 5 m.w.N.).
b) Nichteinhaltung der Ladungsfrist
Trotz Nichteinhaltung der Ladungsfrist bleibt der Angeklagte zunächst verpflichtet, in der Hauptverhandlung zu erscheinen. Dort ist er vom Gericht darüber zu belehren, dass er die Nichteinhaltung der Ladungsfrist beanstanden und Aussetzung der Hauptverhandlung beantragen kann (§ 228 Abs. 3 StPO), was er jedoch auch bereits vor der Hauptverhandlung schriftlich (z.B. mittels Telefax) tun kann. Rechtzeitig ist der Antrag, wenn er vor Beginn der Hauptverhandlung bei Gericht eingegangen ist, selbst wenn er dem zuständigen Richter noch nicht vorliegt (für das Bußgeldverfahren KG, Beschl. v. 26.11.2021 – 3 Ws (B) 312/21, DAR 2022, 217; KG, Beschl. v. 28.9.2022 – 3 Ws (B) 226/22, zfs 2022, 708; OLG Koblenz, Beschl. v. 27.4.2021 – 3 OWi 6 SsBs 59/21; OLG Naumburg, Beschl. v. 17.3.2015 – 2 Ws 55/15 VA 2015, 195; OLG Naumburg, Beschl. v. 9.6.2020 – 1 Ws 23/20, zfs 2021, 112; a.A. OLG Zweibrücken, Beschl. v. 10.7.1996 – 1 Ss 161/96, für einen 30 Minuten vor Beginn der Hauptverhandlung eingegangenen Antrag). In dem Zusammenhang kann die kontroverse obergerichtliche Rechtsprechung um den rechtzeitigen Eingang des sog. Entbindungsantrags im Bußgeldverfahren (§ 73 Abs. 2 OWiG) Bedeutung erlangen; ggf. muss sich der Verteidiger auf diese berufen (s. einerseits OLG Hamm, Beschl. v. 22.6.2011 – III-5 RBs 53/11, DAR 2011, 539, 11/2 Stunden nicht ausreichend; andererseits OLG Bamberg, Beschl. v. 25.3.2008 – 3 Ss OWi 1326/08, 30 Minuten vor Hauptverhandlungsbeginn reichen aus; NZV 2011, 409; s. auch noch KG, VRR 2012, 195, zwei Stunden ausreichend; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31.5.2022 – IV 2 RBs 78/22, StRR 7/2022, 31, Eingang 35 Minuten vor Beginn der Hauptverhandlung per beA im zentralen EGVP-Postfach reicht nicht; OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 20.10.2020 – 1 Ss-OWi 1097/20, NJW 2021, 1109 = m. abl. Anm. Burhoff, StRR 6/2021, 33, Eingang über das beA um 16:58 Uhr im EGVP am Vorabend der am Folgetag um 8:40 Uhr beginnenden Hauptverhandlung reicht nicht). Erst der rechtzeitig vor der Hauptverhandlung gestellte Aussetzungsantrag entbindet den Angeklagten von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung (BGH, Beschl. v. 18.5.1971 – 3 StR 10/71, BGHSt 24, 143 = NJW 1971, 1278; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 15.3.1999 –1 Ws 210/99, 5 Ss 13/99 – 23/99 I, VRS 97, 139; s. aber OLG Karlsruhe, Beschl. v. 24.10.2019 – 1 Rv 21 Ss 716/19, zfs 2020, 46).
Das Beanstandungs- und Antragsrecht steht dem Angeklagten auch zu, wenn gegenüber seinem Verteidiger die Ladungsfrist nicht eingehalten wurde und dieser deshalb nicht vor Gericht erscheint. Der erschienene Verteidiger wiederum kann für seinen Mandanten die Nichteinhaltung der diesen betreffenden Ladungsfrist beanstanden; ein originäres Beanstandungs- und Aussetzungsantragsrecht hat der Verteidiger nur, wenn die Frist ihm gegenüber nicht eingehalten wurde.
Formulierungsvorschlag:
„(...) beanstande ich die Nichteinhaltung der Ladungsfrist verbunden mit dem Antrag, die Hauptverhandlung auszusetzen (§ 217 StPO). Die Ladung zur Hauptverhandlung wurde dem (...) (meinem Mandanten) ausweislich des Zustellvermerks auf dem Briefumschlag am (...) zugestellt. Damit liegen zwischen dem Tag der Zustellung und dem der ...