a. Praktische Auswirkungen auf den Gerichtsalltag
Der Entwurf enthält einige Verbesserungen. Insbesondere wäre der Entfall der zwingenden Anwesenheit im Gerichtssaal ein Schritt hin zu mehr Flexibilität und einer effizienteren Nutzung der in manchen Gerichten knappen Ressource "Sitzungssaal". Andererseits kann eine Anordnung der Videoverhandlung gerade bei den Amtsgerichten zu einer Einschränkung des rechtlichen Gehörs führen. Denn nicht jeder Bürger verfügt über die technischen Geräte und die technische Fähigkeit, an einer Videoverhandlung teilzunehmen. Die nachvollziehbare Erwartung der Anwaltschaft, dass die Gerichte im Jahr 2023 technisch ausreichend ausgestattet sind, entspricht leider nicht der Realität.
Abgesehen von der Hardware ist die Software ein nicht zu unterschätzendes Problem. In NRW beispielsweise hat eine Zentralisierung der justizeigenen EDV stattgefunden. Die dafür eigens eingerichteten Server ächzen allerdings schon heute unter dem Datenstrom und sind regelmäßig zu langsam, um Videoverhandlungen ohne Verzögerungen durchzuführen. Das Gericht muss daher eine neue Browser-Session außerhalb der virtuellen Landesumgebung aufbauen – das stellt die allermeisten verständlicherweise vor Umsetzungsprobleme. Anwalt- und Richterschaft sollten hier an einem Strang ziehen, um die Gerichtsverwaltung über den bloßen Erwerb von Hardware auch dazu zu bewegen, eine einfach zu bedienende (idealerweise bundeseinheitliche) Software anzubieten, auf Servern, die sicher, schnell und zuverlässig arbeiten. Hinzu kommt, dass zum Teil Videokameras angeschafft wurden, welche zwar einen guten Überblick über den Saal ermöglichen, jedoch die Mimik und Gestik der einzelnen Akteure kaum erfassen. Dadurch verliert die Kommunikation jede Lebendigkeit. Entgegensteuern kann der Einzelne mit individuell beschafften Kameras, die eine Nahaufnahme ermöglichen. Erneut ist deren Einsatz nicht ganz trivial, weil das System auf die Saal-Kameras voreingestellt ist. Dies sind nur einige Beispiele, die zeigen, dass Probleme in der praktischen Umsetzung nicht zu unterschätzen sind.
b. Sofortige Beschwerde – unpraktikabel und zweifelhaft im Lichte des Grundgesetzes
(1) Negative Auswirkungen auf den Verfahrensablauf
Es wird nicht gelingen, die neue Technik durch eine Beschwerdemöglichkeit durchzusetzen. Vielmehr würde eine solche Tür und Tor öffnen, um Verfahren zu verschleppen. Die Kombination aus einem sehr spät zurückgeschickten eEB mit einer zeitlich geschickt platzierten sofortigen Beschwerde bringt jeden anberaumten Termin zum Entfall.
(2) Verfassungsrechtliche Vorgaben – individuelle "Best Practice"
Eine sofortige Beschwerde würde zudem auf abzulehnende Weise in die Verfahrensführung des Gerichts eingreifen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist es geboten, dass das Gericht eine am Einzelfall orientierte Betrachtungsweise vornehmen kann, um seine Rolle bei der Prozessführung – insbesondere den Hinweispflichten – gerecht zu werden. Das BVerfG hat bereits 1976 ausgeführt, dass die Zivilgerichte im Rahmen der individuellen tatsächlichen Situation die geeigneten Maßnahmen für ein faires Verfahren treffen müssen. Dafür hält das Prozessrecht
Zitat
"dem Richter im Interesse einer dem jeweiligen Verfahrensgegenstand angemessenen Prozedur in weiten Bereichen Ermessens- und Beurteilungsspielräume zur Leitung, Förderung und Ausgestaltung des Verfahrensganges offen."
Ohne "Ansehen der Person" ist eine Ausfüllung dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht möglich. Die verbindliche Videoverhandlung nimmt dem Gericht ein wichtiges Instrumentarium, um sich einen umfassenden persönlichen Eindruck zu verschaffen. Eine strukturelle Unterlegenheit einer Partei wird regelmäßig verhindern, dass bei ihr die Erkenntnis dieses Problems sowie die Rechtskenntnisse vorhanden sind, um eine mündliche Verhandlung in Präsens zu beantragen. Das vordringliche Ziel des Zivilprozesses – die Durchsetzung des materiellen Rechts – könnte leiden, in Einzelfällen ganz vereitelt werden.
Die Erfahrungen und individuellen Fähigkeiten des zur Entscheidung berufenen Spruchkörpers blieben im Übrigen außen vor, wenn das Beschwerdegericht nach seiner Einschätzung entscheiden soll, wie das Verfahren am sinnvollsten zu führen ist. Nach meiner Erfahrung ist eine Güteverhandlung mit persönlicher Teilnahme häufig besser geeignet, um’zwischenmenschliche Dispute zu klären. Erfahrungsgemäß wird abseits des Protokolls "Small-Talk" betrieben, die Parteien kommen ins Gespräch, was die Atmosphäre (entscheidend) auflockern kann. Im Rahmen von Vergleichsverhandlungen besprechen sich die Parteien häufig mit ihren Prozessbevollmächtigten vor dem Saal von Angesicht zu Angesicht. Nicht selten machen das beide Seiten, finden dabei spontan ...