Der knappe Überblick über drei zum geänderten Entziehungsgrund des § 2333 Abs. 1 Nr. 2 BGB ergangene landgerichtliche Entscheidungen lässt zunächst die Feststellung zu, dass längst nicht jede wissenschaftliche Diskussion die gerichtliche Realität erreicht. Problematisch wird dieses Desinteresse dann, wenn Gesetzesänderungen eingetreten sind und sich die Rechtspraxis erst herausbilden muss. Denn dann besteht die Gefahr, dass man den geänderten Willen des Gesetzgebers nicht zur Kenntnis nimmt und schlicht zur Tagesordnung übergeht, getreu dem Motto: "Das haben wir schon immer so gemacht". Besonders gefährlich wird dieses "business as usual", wenn – wie hier – der Reform eine Entscheidung des BVerfG vorangegangen war, die Auslöser der Veränderungen war und die Gesetzgeber und Rechtsanwendern gleichermaßen einige wichtige Vorgaben gemacht hat.
Doch auch ohne diesen verfassungsgerichtlichen Anstoß waren und sind methodische Zweifel an der Tauglichkeit der traditionellen Kriterien der schweren Pietätsverletzung bzw. der groben Missachtung des Eltern-Kind-Verhältnisses angebracht. So wird in keinem Urteil zunächst einmal dargelegt, welchen Inhalt dieses Eltern-Kind-Verhältnis haben soll, wann dementsprechend eine Missachtung vorliegt und wann eine solche als "grob" einzustufen ist. Insofern trifft der Hinweis des LG Hagen zu, wenn es auf gewandelte Familienleitbilder verweist. Kein Gericht ist heute in der Lage, klar zu definieren, wie ein "richtiges" Eltern-Kind-Verhältnis auszusehen hat; von der geforderten Pietätsverletzung ganz zu schweigen.
Es ist daher auch methodisch ehrlicher, die Dinge nicht nur beim richtigen Namen zu nennen, sondern sie auch auf der Ebene zu entscheiden, auf die sie das BVerfG gehoben hat. Nachdem das Pflichtteilsrecht grundrechtlichen Schutz genießt, bewegen wir uns im Bereich der Abwägung zweier sich antagonistisch gegenüberstehender Grundrechtspositionen: der Testierfreiheit des Erblassers einerseits und dem "Recht auf unentziehbare Mindestteilhabe" des Pflichtteilsberechtigten andererseits. Der Gesetzgeber hat durch seine Entziehungsgründe aufgezeigt, wann er der Auffassung ist, dass sich die Waagschale eher in die eine und wann eher in die andere Richtung bewegen soll. Die Gerichte sind aufgerufen, diesen Abwägungsprozess vor dem Hintergrund der grundrechtlichen Positionen durchzuführen und dürfen sich nicht hinter selbst geschaffenen Leerformeln verstecken.
Die vereinzelt geäußerte Kritik, ein solches Vorgehen schaffe nicht mehr Rechtssicherheit als die traditionelle Herangehensweise, zielt am Thema vorbei. Bei der Kollision zweier Grundrechte geht es um die simultane Optimierung beider Rechtspositionen und nicht um einen rechtssicheren Pragmatismus, oder, wie das BVerfG es formuliert hat: "Dabei kollidierende Grundrechtspositionen sind hierfür in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden." Schließlich verdeutlicht der hier skizzierte Abwägungsprozess – endlich – dass nicht allein die Seite des Berechtigten zu betrachten ist, dessen Pflichtteilsrecht entzogen werden soll. Es geht genauso um die Testierfreiheit des Erblassers, die denselben grundrechtlichen Schutz genießt. Die vom BGH zu § 2333 BGB aF erfundenen Tatbestandsmerkmale "schwere Pietätsverletzung" bzw. "grobe Missachtung" zeugen schon durch ihre Wortwahl von einer verengten Betrachtungsweise, die durch die Reform überwunden werden sollte.