StPO § 147
Leitsatz
Darf ein in einem standardisierten Messverfahren (hier: ESO-Einseitensensor ES 3.0 – Softwareversion 1.007.2) ermitteltes Messergebnis den Urteilsfeststellungen zu einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zugrunde gelegt werden, wenn zuvor dem Antrag des Betroffenen, ihm die vorhandenen Rohmessdaten der Tagesmessreihe, die nicht zur Bußgeldakte gelangt sind, zur Einsicht zu überlassen, nicht stattgegeben worden ist, oder beinhaltet dies eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) bzw. eine unzulässige Beschränkung der Verteidigung des Betroffenen (§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO)?
OLG Koblenz, Beschl. v. 1.2.2022 – 3 OWi 32 SsBs 99/21
Sachverhalt
Gegen den Betroffenen erging ein Bußgeldbescheid wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften über 355 EUR sowie ein Fahrverbot von einem Monat. Der Verteidiger begehrte "ausdrücklich komplette Akteneinsicht (…)", insbesondere in die gesamte Messreihe, Statistikdatei und Caselist, vorhandene Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen des Messgeräts seit der ersten Inbetriebnahme, Konformitätsbescheinigung, die Aufbau- bzw. Einbauanweisung der Firma Vitronic für das Messgerät PoliScan FM1 bei Verwendung in einem Trailer – tatsächlich erfolgte die Messung mit dem ESO-Einseitensensor ES 3.0, Softwareversion 1.007.2 – sowie die verkehrsrechtliche Anordnung der Geschwindigkeitsbegrenzung. Die Bußgeldstelle ließ daraufhin eine CD mit der Gebrauchsanweisung, dem Schulungsnachweis, der Falldatei inkl. Passwort und Token, einem entschlüsselten Bild, dem Messbild mit Symbolen sowie der Statistikdatei dem Verteidiger zukommen. Den Antrag auf Vorlage der gesamten Messreihe lehnte sie u.a. unter Hinweis auf datenschutzrechtliche Gründe ab. Durch Beschluss wies das Amtsgericht den Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung auf Übersendung der gesamten Messreihe des Tattages zurück. Über den Antrag des Betroffenen auf Einsicht in weitere, ihm nicht von der Bußgeldbehörde bereits überlassene Daten und Unterlagen hat das Amtsgericht, soweit ersichtlich, nicht entschieden.
Der Betroffene beantragte dann auch gegenüber dem Amtsgericht Akteneinsicht, insbesondere in die gesamte Messreihe. Eine Reaktion seitens des Amtsgerichts erfolgte auf diesen Antrag nicht. Nach der Hauptverhandlung verurteilte das Amtsgericht wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 195 EUR mit Fahrverbot. Gegen das Urteil wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde. Er macht geltend, sein Recht auf ein faires Verfahren sei verletzt, u.a. weil ihm nicht sämtliche, zur Überprüfung der Richtigkeit der ihn betreffenden Messung existenten Rohmessdaten zur Verfügung gestellt worden seien. Der Betroffene hat zudem beantragt, das Verfahren bis zur Entscheidung des BGH über den Vorlagebeschluss des OLG Zweibrücken (zfs 2021, 349) auszusetzen. Eine Nachfrage beim BGH vom 30.12.2021 hat jedoch ergeben, dass das genannte Vorlageverfahren dort (noch) nicht anhängig ist. Der Einzelrichter hat deswegen das Verfahren auf den Bußgeldsenat übertragen und die Sache dem BGH zur Entscheidung vorgelegt.
2 Aus den Gründen:
[…] II. Der Einzelrichter des Senats überträgt die Sache gemäß § 80a Abs. 3 S. 1 OWiG auf den Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern, da es geboten ist, das angefochtene Urteil zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nachzuprüfen.
In der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung ist umstritten, ob und in welchem Ausmaß es das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG gebietet, ihm die zu einem Messvorgang existierenden Rohmessdaten, die nicht Bestandteil der Bußgeldakte geworden sind, insbesondere die Daten der gesamten Tagesmessreihe, zur Einsichtnahme zur Verfügung zu stellen. Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu dieser Frage liegt bislang nicht vor, wäre jedoch zu begrüßen.
III. Die im Tenor formulierte Rechtsfrage ist für die Entscheidung in vorliegender Sache erheblich.
Die Rügen der Verletzung des fairen Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) und der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung (§ 79 Abs. 1 S. 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO) ist zulässig erhoben worden, allerdings nur im Hinblick auf die unterbliebene Einsichtnahmemöglichkeit in die noch vorhandenen Messdateien der Tagesmessreihe (dazu nachfolgend 1.).
Wäre die vom Senat formulierte Vorlagefrage zu bejahen, dann wäre der Rechtsbeschwerde des Betroffenen stattzugeben, das angefochtene Urteil des AG Alzey vom 1.3.2021 aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht zurück zu verweisen (dazu nachfolgend 2.).
Ist die Rechtsfrage hingegen zu verneinen, so ist das Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen und dem Betroffenen sind die Kosten hierfür aufzuerlegen, da – unbes...