VVG § 125 § 128; ARB § 3a Abs. 1a, Abs. 2 S. 2 § 5 Abs. 1; BGB § 823 Abs. 2 § 826
Leitsatz
1. Ein an einen anderen als den Rechtsschutzversicherer gerichteter Stichentscheid hat keine Bindungswirkung.
2. Ein Stichentscheid, der sich nicht mit allen Gründen der Deckungsablehnung des VR auseinandersetzt, ist nicht bindend.
3. Allein die unternehmerische Entscheidung, ein Kraftfahrzeug mit einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems – einem Thermofenster – auszustatten, macht den Vertrieb des Kraftfahrzeugs nicht sittenwidrig. (Leitsätze der Schriftleitung)
OLG Nürnberg, Beschl. v. 16.3.2023 – 8 U 3296/22
1 Sachverhalt
Die Parteien streiten über Ansprüche aus einer Rechtsschutzversicherung, die der Kl. seit 2013 bei der Beklagten unterhält.
Im Juli 2018 erwarb der Kl. von der Fa. B. … einen gebrauchten Pkw der Marke B zum Preis von brutto 39.500 EUR. Im Fahrzeug ist der Motortyp N 57 verbaut. Es ist in die Schadstoffklasse "EUR 5" eingeordnet und wurde erstmals im Februar 2015 zugelassen. Einen vom Kraftfahrtbundesamt angeordneten verpflichtenden Rückruf gab es für Fahrzeuge dieses Motortyps nicht.
Mit Schreiben vom 5.5.2021 verlangte der Kl. von der Beklagten Rechtsschutzdeckung für die Geltendmachung von Schadensersatz gegen die BMW AG wegen behaupteter "Manipulation der Abgassteuerung". Die Beklagte lehnte den Versicherungsschutz mit Schreiben vom 20.5.2021 ab, weil die beabsichtigte Interessenwahrnehmung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg habe. Daraufhin erstellten die Prozessbevollmächtigten des Kl. am 5.6.2021 einen an die N. A. Versicherungs AG adressierten und dort als Rechtsschutzversicherer des Kl. bezeichneten "Stichentscheid", welcher hinreichende Erfolgsaussichten bejahte.
Der Kl. behauptet, das Fahrzeug sei von dem Hersteller, der B, mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehen worden, die den Schadstoffausstoß auf dem Prüfstand unerlaubt verringere und unter Realbedingungen erheblich mehr Schadstoffe emittiere. Daneben verfüge das Fahrzeug auch über ein sog. "Thermofenster", das die Funktionsweise bzw. den Wirkungsgrad der Abgasreinigung in Abhängigkeit von der Außentemperatur bei gleichbleibender Außentemperatur dauerhaft reduziere. Der Kl. sei bei Erwerb des Fahrzeugs massiv über dessen wesentliche Eigenschaften getäuscht worden. Er plane, die aus dem Kauf resultierenden Schadensersatzansprüche geltend zu machen …
2 Aus den Gründen:
Zu Recht und mit überzeugender Begründung hat das LG einen Anspruch des Kl. aus § 125 VVG, § 5 Abs. 1 ARB verneint und demzufolge die Feststellungs- und Leistungsklage abgewiesen. Mit den hiergegen erhobenen Einwendungen kann die Berufung nicht durchdringen.
1. Zugunsten des Kl. kann davon ausgegangen werden, dass ein Versicherungsfall i.S.v. § 2 lit. a) ARB eingetreten ist. Denn der VN bringt einen objektiven Tatsachenkern vor, mit dem er den Vorwurf eines Rechtsverstoßes als Ausgangspunkt einer rechtlichen Auseinandersetzung verbindet und hierauf seine Interessenverfolgung stützt (sog. "Drei-Säulen-Modell"; vgl. etwa NGH NJW 2009, 365 Rn 20 m.w.N. … Dabei kommt es allein auf das Vorbringen des VN zur geltend gemachten Pflichtverletzung des Anspruchsgegners an.
2. Jedoch durfte die Beklagte den Rechtsschutz ablehnen, weil die vom Kl. beabsichtigte Wahrnehmung rechtlicher Interessen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 3a Abs. 1 lit. a ARB). Hierbei handelt es sich um eine sekundäre Risikobegrenzung, für deren Voraussetzungen der VR beweispflichtig ist (vgl. Harbauer/Schmitt, Rechtsschutzversicherung, 9. Aufl., ARB 2010, § 3a Rn 12). Allerdings trifft den klagenden VN eine sekundäre Darlegungslast. Er hat einen Sachverhalt vorzutragen, aufgrund dessen die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung beurteilt werden kann (vgl. OLG München, BeckRS 2022, 13980).
a) Etwas anderes ergibt sich im Streitfall auch nicht aus dem als "Stichentscheid" bezeichneten Schreiben der Klägervertreter vom 5.6.2021. Dieser entfaltet entgegen § 3a Abs. 2 Satz 2 ARB keine Bindungswirkung zwischen den Parteien.
aa) Dies folgt bereits daraus, dass dieser "Stichentscheid" nicht an die hiesige Bekl. adressiert ist, sondern an die N. A. Versicherungs AG, welche dort als Rechtsschutzversicherer des Kl. bezeichnet wird. Nach § 3a Abs. 2 Satz 1 ARB war die begründete Stellungnahme jedoch "diesem gegenüber", also gegenüber dem Rechtsschutzversicherer des Kl. abzugeben.
bb) Die Bindungswirkung setzt ferner voraus, dass der Stichentscheid losgelöst von der reinen Interessenvertretung alle rechtlichen Gesichtspunkte berücksichtigt, auf die der Rechtsschutzversicherer seine Deckungsablehnung gestützt hat (vgl. OLG Hamm zfs 2021, 581 OLG Fr.). Hieran fehlt es jedoch, wie die Vorinstanz zutreffend herausgearbeitet hat.
Die Bekl. hatte ihre Ablehnung unter Bezugnahme auf eine aktuelle höchstrichterliche Entscheidung maßgeblich damit begründet, dass Thermofenster oder sonstige Abschalteinrichtungen nicht per se eine sittenwidrige Handlung darstellten, sondern darüber hinaus weitere zu beweisende Täuschungshand...