Erfahrungen mit der Quotenlotterie
Seit dem 1.1.2009 ist nach Inkrafttreten des neuen VVG das "Alles-oder-nichts-Prinzip" Geschichte. Nur bei vorsätzlichen Verstößen bleibt es bei Leistungsfreiheit. Insb. im Fall einer grobfahrlässigen Obliegenheitsverletzung dürfen Leistungen in einem der Schwere des Verschuldens des Versicherungsnehmers entsprechenden Verhältnis gekürzt werden.
Nun gibt es keine Vorgaben des Gesetzgebers zur Ausgestaltung des Leistungskürzungsrechts: Welche Quotenschritte soll es geben, wer bestimmt nach welchen Kriterien die Höhe der Quote, werden mehrere Verstöße addiert? Die sind nur einige der offenen Fragen. Mit Spannung sind die ersten gerichtlichen Entscheidungen erwartet worden, die sich mit Quotenbildung befassen mussten. Zuvor haben sich in der Literatur viele Stimmen geäußert und divergierend dargestellt, wie Quoten zu bilden sind.
Auch der Verkehrsgerichtstag in Goslar ist der Empfehlung nachgekommen, ein gemeinsames Gremium aus Vertretern von Verbraucherschutzverbänden, der Versicherungswirtschaft, der Anwaltschaft und der Richterschaft zu bilden, das eine Tabelle von Musterquoten für die Kraftfahrtversicherung aufstellen sollte. Der "Goslarer Orientierungsrahmen" wurde verabschiedet und veröffentlicht (zfs 2010, 12 ff.). Ganz bewusst hat sich das Gremium nur auf einen unverbindlichen Orientierungsrahmen und Quotenvorschläge für 7 typische Leistungsfälle der Kfz-Versicherung verständigt.
Ein wesentlicher Diskussionspunkt war hierbei die Frage, wie das Leistungskürzungsrecht bei alkoholbedingter Fahrunsicherheit ausgeprägt sein soll, ferner, ob auch ein grob fahrlässiges Fehlverhalten des Versicherungsnehmers zu einer vollständigen Leistungskürzung auf Null berechtigen kann. Dieser Gedanke wird in der Literatur teilweise mit guten Argumenten abgelehnt. Wie werden sich die Instanzgerichte und Obergerichte zu dieser Problematik stellen?
Hier wird nun eine erste Rechtsprechungstendenz erkennbar: Mehrere Landgerichte haben inzwischen die Auffassung vertreten, dass das Führen eines Kraftfahrzeuges im alkoholbedingten Zustand absoluter Fahrunsicherheit in der Kfz-Kaskoversicherung eine Leistungskürzung auf Null rechtfertigt. Die Berufung des Klägers gegen ein solches Urteil des LG Münster (DAR 2010, 473) wurde nach Hinweis des OLG Hamm zurückgenommen. Es ist zu begrüßen, dass die Rspr. es als grob fahrlässig ansieht, wenn ein Kraftfahrer sich im Zustand der absoluten Fahrunsicherheit mit über 1,1 Promille BAK ans Steuer setzt. Insoweit hat das LG Münster zutreffend ausgeführt, dass die Einsicht, dass man sich unter starker Alkoholeinwirkung nicht an das Steuer eines Kfz setzen darf, heute derart bekannt ist, dass die Hemmschwelle für ein Fahren trotz alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit erheblich heraufgesetzt ist. Wer im Zustand absoluter Fahrunsicherheit verunfallt, darf nicht mit einer Leistung seines Kfz-Kaskoversicherers rechnen!
Im Übrigen sind bislang nur wenige gerichtliche Entscheidungen zur Quotenbildung in verkehrsrechtlich relevanten Fällen ergangen. Man wird also wahrscheinlich noch einige Jahre zuwarten müssen, ehe sich auch z.B. bei Überlassen des Fahrzeuges an Fahrer ohne Fahrerlaubnis oder Missachtung eines Stoppschildes oder Rotlichts eine Tendenz in der Rspr. zu Quotenbildung erkennen lässt. Vielleicht ist auch der eine oder andere zufrieden, wenn er nun vom Versicherer in Fällen, in denen es vor der VVG-Novelle gar nichts gab, eine kleine Leistung erhält, und traut sich nicht zu fragen oder gar zu fordern, ob es nicht auch etwas mehr sein darf. Eine weitere wichtige Problematik ist die Frage, ob ein Kraftfahrer, der wegen Verkehrsunfallflucht (§ 142 StGB) verurteilt wurde, den Unfall als solchen aber nicht verschuldet hat, Anspruch auf eine Leistung seines Kfz-Kaskoversicherers hat.
Vor der VVG-Novelle war das Ergebnis klar: Verkehrsunfallflucht ist eine vorsätzliche Verletzung der Aufklärungsobliegenheit gem. den AKB. Die Relevanz-Rspr. besagte, dass die Verkehrsunfallflucht generell geeignet sei, die Interessen des Versicherers zu gefährden. Das Ergebnis war stets Leistungsfreiheit.
Nach neuem VVG hat der Versicherungsnehmer auch bei vorsätzlicher Obliegenheitsverletzung die Möglichkeit nachzuweisen, dass die Obliegenheitsverletzung weder für den Eintritt des Versicherungsfalls noch für Feststellung oder Umfang der Leistungspflicht ursächlich war (Kausalitäts-Gegenbeweis). Dann gibt es keine Quote, sondern volle Leistung!
Verkehrsrechtsanwälte, insb. Verteidiger, sind daher aufgerufen stets zu prüfen, ob nicht trotz Verurteilung wegen Verkehrsunfallflucht Leistungen des Kfz-Versicherers verlangt werden können. Dies ist auch dann der Fall, wenn eine Verfahrenseinstellung (§ 153 oder 153a StPO) erfolgte. Es kann nicht stets vom Versicherer die vorsätzliche Verletzung der Aufklärungsobliegenheit nachgewiesen werden. Auch dann gibt es keine Quote, sondern volle Leistung!
Die Quotenlotterie steht erst am Anfang, erste Entscheidungen sind da, eine Vielzahl anderer wird folgen. B...