Art. 3 der Richtlinie 72/166/EWG vom 24.4.1972 (1. Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie); Art. 1 Abs. 4 der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG vom 30.12.1983 (2. Kfz-Haftpflichtversicherungsrichtlinie) in der durch die Richtlinie 2005/14/EG vom 11.5.2005 geänderten Fassung
Leitsatz
1. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24.4.1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kfz-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht in der durch die Richtlinie 2005/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.5.2005 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der Abschluss einer Kfz-Haftpflichtversicherung verpflichtend ist, wenn das betreffende Fahrzeug weiterhin in einem Mitgliedstaat zugelassen und fahrbereit ist und wenn es nur deshalb auf einem Privatgrundstück abgestellt wurde, weil sein Eigentümer es nicht mehr nutzen will.
2. Art. 1 Abs. 4 der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30.12.1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kfz-Haftpflichtversicherung in der durch die Richtlinie 2005/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.5.2005 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er innerstaatlichen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die vorsehen, dass die in dieser Vorschrift genannte Stelle ein Rückgriffsrecht nicht nur gegen den oder die für den Unfall Verantwortlichen hat, sondern auch gegen die Person, die eine Haftpflichtversicherung für das Fahrzeug, das die von dieser Stelle übernommenen Schäden verursacht hat, hätte abschließen müssen, dies aber unterlassen hat; dies gilt auch dann, wenn sie zivilrechtlich nicht für den Unfall verantwortlich ist.
EuGH, Urt. v. 4.9.2018 – C 80/17
Sachverhalt
Frau D, die Eigentümerin eines in Portugal zugelassenen Kfz, hatte aufgrund gesundheitlicher Probleme die Nutzung dieses Fahrzeugs eingestellt und es im Hof ihres Hauses geparkt, ohne jedoch Schritte zu seiner offiziellen Stilllegung zu unternehmen. Am 19.11.2006 kam das Fahrzeug, dessen sich der Sohn von Frau D ohne ihre Erlaubnis und ohne ihr Wissen bemächtigt hatte und der es führte, von der Straße ab. Dies führte zum Tod des Fahrers und von zwei weiteren Fahrzeuginsassen. Frau D hatte zu diesem Zeitpunkt keine Haftpflichtversicherung für das Fahrzeug abgeschlossen.
Nachdem der (Entschädigungs-)Fonds den Rechtsnachfolgern der Insassen des Fahrzeugs die durch den Unfall entstandenen Schäden ersetzt hatte, nahm er Frau D sowie Frau C, die Tochter des Fahrers, gerichtlich aufgrund einer portugiesischen gesetzlichen Regelung auf Erstattung von 437.345,85 EUR in Anspruch.
Frau D machte zu ihrer Verteidigung u.a. geltend, sie sei für den Schadensfall nicht verantwortlich und, da sie ihr Fahrzeug im Hof ihres Hauses abgestellt habe und es nicht habe nutzen wollen, nicht zum Abschluss eines Haftpflichtversicherungsvertrags für das Fahrzeug verpflichtet gewesen.
Das Gericht des ersten Rechtszugs gab der Klage des Fonds teilweise statt, das BG stellte fest, dass Frau D nicht zum Abschluss einer Versicherung für das Fahrzeug verpflichtet gewesen sei und für den Unfall nicht verantwortlich gemacht werden könne.
Der Oberste Gerichtshof von Portugal legte dem EuGH daraufhin zwei Fragen zur Vorabentscheidung vor.
2 Aus den Gründen:
"… Zur ersten Frage: Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass der Abschluss einer Kfz-Haftpflichtversicherung verpflichtend ist, wenn das betreffende Fahrzeug nur deshalb auf einem Privatgrundstück abgestellt wurde, weil sein Eigentümer es nicht mehr nutzen will."
Diese Frage beruht auf der Prämisse, dass der Fonds von Frau D auf der Grundlage von Art. 25 des Decreto-Lei Nr. 522/85 die Erstattung der den Rechtsnachfolgern der Opfer des Unfalls, an dem ihr Fahrzeug beteiligt war, gezahlten Entschädigungen gefordert hat, weil sie verpflichtet war, eine Kfz-Haftpflichtversicherung für dieses Fahrzeug abzuschließen, und dieser Verpflichtung nicht nachgekommen ist. In diesem Kontext stellt sich das vorlegende Gericht im Wesentlichen die Frage, ob für das Fahrzeug in der Situation, die in der vorstehenden Randnummer beschrieben wird, eine solche Versicherung hätte bestehen müssen.
Nach dieser Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 3 Abs. 1 der Ersten RL jeder Mitgliedstaat vorbehaltlich der Anwendung ihres Art. 4 alle zweckdienlichen Maßnahmen trifft, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist.
Art. 3 Abs. 1 der Ersten RL, der sehr allgemein formuliert ist, verpflichtet also die Mitgliedstaaten, in ihrer nationalen Rechtsordnung eine allgemeine Versicherungspflicht für Fahrzeuge vorzusehen (vgl. i.d.S. Urt. v. 11.7.2013 – C-409/11).
Jeder Mitgliedstaat hat somit dafür zu sorgen, dass vorbehaltlich der in Art. 4 der Ersten RL vorgesehenen Ausnahmen jedes Fahrzeug mit gewöhnlichem Standort im Inland von einem ...