[…] II. Der gemäß §§ 62, 69 Abs. 1 Satz 2 OWiG zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Antrag hat auch in der Sache Erfolg.
1. Der Verwerfungsbescheid vom 6.7.2023 ist gemäß § 62 Abs. 2 S. 2 OWiG i.V.m. § 309 Abs. 2 StPO aufzuheben, da der Einspruch des Betreuers des Betroffenen vom 22.2.2023 nicht gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 OWiG wegen Verfristung als unzulässig verworfen werden durfte. Um eine Verfristung annehmen zu können, bedarf es der Bestimmung von Fristanfang und Fristende der Einspruchsfrist. § 67 Abs. 1 Satz 1 OWiG bestimmt insoweit, dass der Betroffene gegen den Bußgeldbescheid innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung schriftlich oder zur Niederschrift bei der Verwaltungsbehörde, die den Bußgeldbescheid erlassen hat, Einspruch einlegen kann. Zentrales Element der Bestimmung des Fristbeginns der zweiwöchigen Einspruchsfrist ist damit die Zustellung des Bußgeldbescheides an den Betroffenen. Dies richtet sich gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG i.V.m. § 4 Abs. 1 SächsVwVfZG i.V.m. § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG nach den §§ 177 bis 182 der Zivilprozessordnung.
a) Anders als die Verwaltungsbehörde meint, stellt die mittels Postzustellungsurkunde dokumentierte Übergabe des Schriftstücks am 30.1.2023 an einen in der Maßregelvollzugseinrichtung unter der Anschrift […] beschäftigten Mitarbeiter keine wirksame (Ersatz-)Zustellung an den Betroffenen dar. Sofern die Person, der zugestellt werden soll, in ihrer Wohnung, in dem Geschäftsraum oder in einer Gemeinschaftseinrichtung, in der sie wohnt, nicht angetroffen wird, kann das Schriftstück gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 OWiG i.V.m. § 4 Abs. 1 SächsVwVfZG i.V.m. § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG i.V.m. § 178 Abs. 1 ZPO zugestellt werden, (1.) in der Wohnung einem erwachsenen Familienangehörigen, einer in der Familie beschäftigten Person oder einem erwachsenen ständigen Mitbewohner, (2.) in Geschäftsräumen einer dort beschäftigten Person oder (3.) in Gemeinschaftseinrichtungen dem Leiter der Einrichtung oder einem dazu ermächtigten Vertreter. Von § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO sind dabei u.a. neben Alten-, Lehrlings-, Arbeiterwohnheimen, Obdachlosenunterkünfte auch Krankenhäuser, Kasernen, Justizvollzugsanstalten und ähnliche Einrichtungen umfasst. Der Zustellungsadressat muss hier "wohnen" (vgl. nur MüKoZPO/Häublein/Müller, 6. Aufl. 2020, ZPO § 178 Rn 27).
Eine wirksame Ersatzzustellung in dem hier einschlägigen Fall nach § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO setzt damit zwingend voraus, dass der Betroffene im Zeitpunkt der Zustellung unter der Anschrift auch gewohnt hat. Die Wohnung im Sinne der Zustellungsvorschrift ist der räumliche Lebensmittelpunkt des Zustellungsempfängers. Maßgeblich ist, ob der Zustellungsempfänger hauptsächlich in den Räumen lebt und insbesondere, ob er dort schläft. Die melderechtlichen Verhältnisse haben für den tatsächlichen Begriff des Wohnens nur unwesentlich Bedeutung (vgl. nur BGH, Urt. v. 24.11.1977 – II ZR 1/76; KG, Beschl. v. 4.12.1998 – 2 Ss 360/98 – 3 Ws (B) 615/98 –, juris).
Dass der Betroffene bei der Zustellung am 30.1.2023 unter der Anschrift der Maßregelvollzugseinrichtung […] tatsächlich wohnte, wird auch seitens der Verwaltungsbehörde nicht angenommen. Vielmehr hat der Betreuer vorgetragen und dies durch Vorlage diverser Belege glaubhaft gemacht, dass der Betroffene bereits zum 16.1.2023 im Rahmen der Unterbringung zum Zwecke des Probewohnens in die Wohnstätte […] gezogen ist und sich dort auch aufhält. Mit diesem Umzug hat der Betroffene seinen Lebensmittelpunkt von der Klinik in die Wohnstätte verlagert und ersichtlich in dieser gelebt.
Die in der Postzustellungsurkunde dokumentierte Ersatzzustellung, die wie die persönliche Übergabe, gewährleisten soll, dass der Adressat sicher und schnell von dem Inhalt des zugestellten Schriftstückes Kenntnis erlangt, damit ihm ermöglicht wird, seine rechtlichen Interessen unverzüglich wahrzunehmen, ist unwirksam, weil die Voraussetzung des Wohnens des Betroffenen unter der Zustellanschrift im dokumentierten Zeitpunkt nicht vorliegt. Diesbezüglich ist auch klarzustellen, dass sich die Beweiskraft der Postzustellungsurkunde nicht auf die Frage erstreckt, wo der Zustellungsempfänger tatsächlich wohnt, sondern begründet insoweit lediglich eine Vermutung. Diese Vermutung ist nicht von dem Betroffenen "schlüssig" zu widerlegen, sondern von Amts wegen aufzuklären (vgl. KG Berlin, Beschl. v. 4.12.1998 – 2 Ss 360/98 – 3 Ws (B) 615/98 –, juris).
b) Soweit sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen lässt oder es unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist, gilt es gemäß § 8 Hs. 1 VwZG als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist. Dies war hier nach dem glaubhaften Vortrag des Betreuers, den die Verwaltungsbehörde im Übrigen zu widerlegen hätte, am 9.2.2023 der Fall, der insoweit für den Beginn der zweiwöchigen Einspruchsfrist maßgebend ist. Diese Einspruchsfrist war damit am Tag der Einspruchseinlegung am 22.2.2023 noch nicht abgelaufen, sodass ...