Neben der abstrakten Betrachtung von Verjährungszweck und Beteiligteninteresse ist bei der Zumutbarkeitsprüfung im Rahmen von § 254 Abs. 2 S. 1 BGB auch der konkrete Inhalt des verjährten Anspruchs und das diesen umspannende Rechtsverhältnis zwischen Schuldner und Gläubiger zu berücksichtigen. Die in der Literatur zu findende Annahme, eine Begleichung von "Ehrenschulden" sei stets nur auf eigene Kosten möglich, ist jedenfalls zu weitgehend. Zwar ist die Erhebung der Verjährungseinrede nicht als unehrenhaft zu bewerten. Insbesondere kaufmännische Geschäftsgepflogenheiten und die in diesem Zusammenhang ggf. erwartete besondere Zahlungsbereitschaft des Vertragspartners können aber vereinzelt eine Erfüllung verjährter Forderungen gebieten. An dieser Stelle – wie etwa das OLG Hamm – ohne empirischen Beleg pauschal davon auszugehen, dass das Berufen auf die Verjährung in aller Regel der heutigen Moralvorstellung eines Kaufmanns entspreche, ist daher ebenso wenig zielführend, wie die genau gegenteilige Annahme in Teilen der Literatur. Ausschlaggebend ist hier das individuelle Rechtsverhältnis.
Es besteht aber auch kein Anlass, (langfristige) geschäftliche Beziehungen ohne weitere Umstände gegenüber einem Dritten zu privilegieren oder die Erhebung der Einrede sogar völlig in das Belieben des Schuldners zu stellen. Selbst ein kaufmännischer Vertragspartner kann schließlich wie jeder andere Gläubiger seine Ansprüche vor dem Verjährungseintritt verfolgen. Denkbar sind aber beispielsweise Konstellationen, in denen der jetzige Gläubiger des verjährten Anspruchs in der Vergangenheit selbst verjährte Verbindlichkeiten gegenüber dem aktuellen Schuldner erfüllt hat. In diesem Fall könnte das Nichtberufen auf die Verjährungseinrede der verfestigten individuellen (und ggf. wechselseitigen) Geschäftspraxis von Schuldner und Gläubiger entsprechen, so dass ein "Verstoß" dagegen das Verhältnis in einer für den Schuldner nicht hinnehmbaren Weise beschädigen könnte. Dieses ist auch für Fälle denkbar, in denen ein Berufen auf die Verjährungseinrede die wirtschaftliche Existenz eines für den Schuldner als Vertragspartner bedeutsamen Gläubigers gefährden würde.
Ein in vergleichbarer Weise achtenswertes Interesse an der Erfüllung einer verjährten Verbindlichkeit ist denkbar, wenn der Schuldner innerhalb eines synallagmatischen Rechtsverhältnisses den Gläubiger dazu bewegen möchte, den ebenfalls verjährten Gegenleistungsanspruch zu erfüllen. Ebenso wäre es möglich, dass der Schuldner des verjährten Anspruchs bisher stets besonders gute Konditionen bei seinem Vertragspartner erhalten hat bzw. weiter erhalten möchte, die er nicht durch die eigene Zahlungsunwilligkeit gefährden möchte. Aus ökonomischer Sicht kann die Erfüllung einer verjährten Forderung den Schuldner deshalb in einigen Situationen erheblich besser stellen als die kurzfristige Erleichterung durch eine erhobene Verjährungseinrede. Ihn hier über § 254 Abs. 2 S. 1 BGB mittelbar zur Leistungsverweigerung zu zwingen, kann bedeuten, ihm zugunsten des Schädigers eine Pflicht zur Selbstschädigung aufzuerlegen. Das kann unter Beachtung des Verjährungszwecks aber nur nach einer gründlichen Interessenabwägung erfolgen.
Mit einem weiteren Fall (mutmaßlich) fehlender Zumutbarkeit hat sich das OLG Düsseldorf in einer Entscheidung aus dem Jahr 2015 auseinandergesetzt. Darin begehrte der Bauherr eines Einfamilienhauses gegenüber dem Bauunternehmer und zwei Architekten die Feststellung der Haftung und die Zahlung eines Schadensersatzes für die mangelhafte Abdichtung der Tiefgarage. Der Kläger hatte die Schäden von Dritten beheben lassen, deren Werklohnanspruch jedoch bereits verjährt war. Das OLG Düsseldorf erteilte dem Einwand der Beklagten, der Kläger habe sich zumindest im Rahmen seiner Schadensminderungspflicht gegenüber den Drittgläubigern auf die Verjährung berufen müssen, eine Absage. Zur Begründung führte das Gericht aus, dass den Kläger aufgrund der "bislang nicht rechtskräftig geklärte[n] Haftungssituation – weder im Rahmen von § 254 Abs. 2 BGB noch aus sonstigen Rechtsgründen – eine Pflicht bzw. Obliegenheit traf bzw. trifft, gegenüber den Gläubigern die Verjährungseinrede zu erheben. Dies … [gelte] schon deswegen, weil ansonsten der Werkunternehmer bzw. Architekt es als Haftungsschuldner in der Hand hätten, durch – unberechtigte – Einwände die rechtskräftige Klärung der Haftungssituation (bzw. von diesbezüglichen Fest-/Freistellungsansprüchen) bis zum Eintritt der Verjährung im Verhältnis des Bauherrn zu den Auftragnehmern der Mängelbeseitigungsarbeiten als Werklohngläubigern zu verzögern. Insoweit … [stelle] sich ein solches Ansinnen der Bekl. zu 1 als unzulässige Rechtsausübung (§ 242 BGB) dar."
Auch diese Konstellation dürfte aber nur unter zusätzlichen Einschränkungen verallgemeinerungsfähig sein. Zunächst ist vorab zu klären, ob das Erheben der Verjährungseinrede im Verhältnis zum Drittgläubiger tatsächlich als rechtsmissbräuchlic...