ZPO § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 und 3
Leitsatz
Hat das Erstgericht die Abweisung der Klage auf mehrere voneinander unabhängige, selbstständig tragende Erwägungen gestützt, muss die Berufungsbegründung jede tragende Erwägung angreifen, ansonsten ist das Rechtsmittel unzulässig.
(Leitsatz der Schriftleitung in Anlehnung an Rn 8).
BGH, Beschl. v. 10.2.2015 – VI ZB 26/14
Sachverhalt
Die Kl. hat behauptet, auf dem Rückweg von den Gleisen eines Bahnhofs auf dem völlig vereisten Bahnhofsvorplatz gestürzt zu sein und sich dabei eine Sprunggelenksfraktur zugezogen zu haben. Das erstinstanzliche Gericht stützte die Klageabweisung auf die Verneinung einer Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch die Bekl. und ein von ihm angenommenes Mitverschulden der Kl. Das BG hat die von der Kl. eingelegte Berufung als unzulässig verworfen, da die Kl. die selbstständig tragende Annahme eines anspruchsausschließenden Mitverschuldens nicht in noch hinreichendem Maße angegriffen habe.
2 Aus den Gründen:
[6] "… II. 2. Die Verwerfung der Berufung als unzulässig verletzt die Kl. in ihrem Verfahrensgrundrecht auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip). Das BG hat die in § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 und 3 ZPO beschriebenen Anforderungen an den Inhalt der Berufungsbegründung überspannt und hierdurch der Kl. den Zugang zur Berufungsinstanz in unzulässiger Weise versagt. Da die Sicherung einer einheitlichen Rspr. deshalb eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert, ist die nach § 574 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 i.V.m. § 522 Abs. 1 S. 4 ZPO statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete Rechtsbeschwerde auch im Übrigen zulässig (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Im Hinblick auf den dargestellten Rechtsfehler ist sie zudem begründet."
[7] a) Nach § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 ZPO muss die Berufungsbegründung die Umstände bezeichnen, aus denen sich nach Ansicht des Berufungsklägers die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergeben; nach § 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 ZPO muss sie konkrete Anhaltspunkte bezeichnen, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellung im angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Dazu gehört eine aus sich heraus verständliche Angabe, welche bestimmten Punkte des angefochtenen Urteils der Berufungskläger bekämpft und welche tatsächlichen oder rechtlichen Gründe er ihnen im Einzelnen entgegensetzt. Besondere formale Anforderungen bestehen zwar nicht; auch ist es für die Zulässigkeit der Berufung ohne Bedeutung, ob die Ausführungen in sich schlüssig oder rechtlich haltbar sind. Die Berufungsbegründung muss aber auf den konkreten Streitfall zugeschnitten sein. Es reicht nicht aus, die Auffassung des Erstgerichts mit formularmäßigen Sätzen oder allgemeinen Redewendungen zu rügen oder lediglich auf das Vorbringen erster Instanz zu verweisen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschl. v. 22.5.2014 – IX ZB 46/12, BeckRS 2014, 12010 Rn 7 m.w.N.).
[8] Hat das Erstgericht die Abweisung der Klage auf mehrere voneinander unabhängige, selbstständig tragende rechtliche Erwägungen gestützt, muss die Berufungsbegründung – wie das BG zutreffend erkannt hat – in dieser Weise jede tragende Erwägung angreifen; andernfalls ist das Rechtsmittel unzulässig (Senat NJW-RR 2006, 285 = VersR 2006, 285 Rn 8 f.; BGH, Beschl. v. 28.1.2014 – III ZB 32/13, BeckRS 2014, 03372 Rn 13; NJW 2013, 174 Rn 11; NJW 2011, 2367 Rn 10; vgl. auch HK-ZPO/Wöstmann, 5. Aufl., § 520 Rn 23; Zöller/Heßler, ZPO, 30. Aufl., § 520 Rn 37a; jew. m.w.N.).
[9] b) Den dargestellten Anforderungen wird die Berufungsbegründung der Kl. gerecht. Entgegen der Auffassung des BG ist auch die das landgerichtliche Urteil selbstständig tragende Annahme, die Kl. treffe jedenfalls ein anspruchsausschließendes Mitverschulden, in noch hinreichender Weise angegriffen.
[10] Die Kl. hat in ihrer Berufungsbegründung unter anderem ausgeführt:
“Da das Bahnhofsgelände zum Unfallzeitpunkt verschlossen war, führte der einzige Weg von der öffentlichen Straße zu den Bahngleisen über das mit der Unfallstelle belegene Grundstück. Da die Bekl. auf diesem keinerlei Räumarbeiten vorgenommen hatten, haften sie wegen der ihnen obliegenden Verkehrssicherungspflicht für die der Kl. entstandenen Schäden.’
[11] Damit hat sie in noch hinreichender Weise sowohl zum Ausdruck gebracht, dass sie – anders als das LG – von einer vollen Haftung der Bekl. ausgeht, als sich in der Sache auch mit der vom LG im Rahmen des § 254 BGB vorgenommenen Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensbeiträge befasst. Denn das LG hatte der Kl. dabei gerade auch zum Vorwurf gemacht, auf dem Rückweg den Weg über den Vorplatz genommen und sich damit selbst in eine von ihr erkannte Gefahr begeben zu haben. Mit dem Verweis darauf, es habe sich um den einzigen zur Verfügung stehenden Weg gehandelt, hat sie die Haltbarkeit dieses Vorwurfs in Frage gestellt. Darüber hinaus hat sie mit dem Hinweis, die Bekl. hätten “keinerlei’ Räumarbeiten vorgenommen, auch das ...