Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufung. Statthaftigkeit. Zulässigkeit
Orientierungssatz
Hat das SG von seiner materiell rechtlichen Auffassung aus geprüft, ob die behaupteten epileptischen Anfälle vorliegen, und sie als nicht feststellbar erachtet, so hat es damit eine Entscheidung getroffen, die nach § 150 Nr 3 SGG in jedem Fall der Nachprüfung durch die Berufungsinstanz unterliegt. Das LSG hat somit § 150 Nr 3 SGG verletzt, da es die Berufung als unzulässig verworfen hat.
Normenkette
SGG § 150 Nr. 3
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 14.10.1965) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. Oktober 1965 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Gründe
Der Kläger bezieht aufgrund des Umanerkennungsbescheides vom 21. Januar 1953 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v. H. wegen "Einschränkung der Mundöffnung, Verlustes mehrerer Zähne nach Unterkieferverletzung links, Bewegungsbeeinträchtigung des rechten Schultergelenks, des rechten Daumens und des 4. Fingers rechts, Schwäche des rechten Fußes nach Schußbruch, operierten Steckschusses der rechten Lunge, mehrerer Narben am Kopf, Stecksplitter in der rechten Kopfhälfte zwischen Auge und Schläfe, Hirnleistungsschwäche nach Hirnquetschung". Er stellte im Oktober 1953 einen Verschlimmerungsantrag, den das Versorgungsamt (VersorgA) nach Beiziehung von Krankenunterlagen und Gutachten mit Bescheid vom 11. November 1957 ablehnte. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 5. November 1958).
Das Sozialgericht (SG) hat verschiedene Akten und Gutachten beigezogen und mit Urteil vom 30. März 1965 die auf Erhöhung der Rente nach einer MdE um 100 v. H. gerichtete Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, daß sich die für die frühere Feststellung maßgebend gewesenen Verhältnisse nicht geändert haben. Dies ergebe sich aus der Gegenüberstellung der früheren und jetzigen Gutachten. Die Störungen, die sich in einer Hirnintoleranz und Hirnleistungsschwäche äußerten, seien in ihrem Umfang gleichgeblieben. Das Hirnstrombild sei unverändert. Die vom Kläger behaupteten Anfälle seien nicht festgestellt worden. Prof. Dr. E sei der Auffassung, daß es sich bei diesen Anfällen um den Ausdruck möglicher Kollapszustände handele. Das Vorbringen des Klägers, er habe epileptische Anfälle und diese seien seit 1953 vermehrt aufgetreten, habe in den beigezogenen Gutachten keine Beschädigung gefunden. Ein Anfall des Klägers sei von einem Arzt noch nicht beobachtet worden. Das SG hat die Berufung nicht zugelassen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers gegen dieses Urteil mit Urteil vom 14. Oktober 1965 als unzulässig verworfen. Es hat ausgeführt, die Berufung sei gemäß § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen, weil sie im vorliegenden Fall die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) betreffe, ohne daß davon die Gewährung der Grundrente oder die Schwerbeschädigteneigenschaft des Klägers abhänge. Sodann hat das LSG mit näherer Begründung ausgeführt, daß die Berufung auch nicht nach § 150 Nr. 2 SGG statthaft sei, weil die vom Kläger gerügten wesentlichen Mängel im Verfahren des SG nicht vorliegen. Die Berufung sei aber auch nicht nach § 150 Nr. 3 SGG zulässig, weil das SG die vom Kläger behaupteten epileptischen Anfälle, mit denen er die begehrte Erhöhung seiner Rente begründe, nicht als festgestellt erachtet habe. Es sei dem LSG fraglich, ob es sich bei den epileptischen Anfällen des Klägers um eine Folge der anerkannten Hirnschädigung oder um eine neue Gesundheitsstörung im Sinne des § 150 Nr. 3 SGG handele. Der Kläger behaupte nämlich nicht, daß die epileptischen Anfälle erst seit 1953 als Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen auftreten, sondern daß sie seit 1947 bestünden und sich seit 1953 verschlimmert hätten. Dementsprechend habe er vor dem LSG den Antrag gestellt, die Rente rückwirkend ab 1. Januar 1950 auf 100 v. H. zu erhöhen. Es sei also nicht streitig, ob eine seit 1953 neu aufgetretene Gesundheitsstörung bestehe oder bejahendenfalls ihr ursächlicher Zusammenhang mit einer Schädigung im Sinne des BVG gegeben sei, vielmehr wolle der Kläger hinsichtlich seiner Anfälle eine nochmalige Überprüfung der früheren bindend gewordenen Bescheide durchsetzen. Dieses Begehren könne er jedoch nicht im Rahmen einer Neufeststellung seiner Rente nach § 62 BVG, sondern nur im Rahmen eines Antrages auf Erteilung eines Zugunstenbescheides nach § 40 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) verfolgen. Es müsse ihm überlassen bleiben, einen entsprechenden Antrag beim VersorgA zu stellen. Dasselbe gelte auch hinsichtlich des vom Kläger gestellten Antrages auf Gewährung einer Pflegezulage und des Berufsschadensausgleichs. Insoweit handle es sich ebenfalls um selbständige Ansprüche, die noch nicht im Verwaltungswege beschieden seien. Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Der Senat hat dem Kläger auf seinen Antrag mit Beschluß vom 14. Februar 1966 das Armenrecht bewilligt und seinen jetzigen Prozeßbevollmächtigten beigeordnet. Dieser Beschluß ist dem Kläger am 18. Februar 1966, seinem Prozeßbevollmächtigten am 17. Februar 1966 zugestellt worden.
Dieser hat gegen das dem Kläger am 7. November 1965 zugestellte Urteil mit Schriftsatz vom 1. März 1966, beim Bundessozialgericht (BSG) am 2. März 1966 eingegangen, Revision eingelegt und sie mit einem beim BSG am 29. März 1966 eingegangenen Schriftsatz vom 24. März 1966 begründet. Er beantragt, dem Kläger wegen Versäumnis der Revisionsfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils nach dem zuletzt in der 1. Instanz gestellten Antrag des Revisionsklägers zu erkennen.
Der Kläger rügt eine Verletzung des § 150 Nr. 3 SGG durch das LSG und ist der Auffassung, daß das LSG die Berufung nicht als unzulässig hätte verwerfen dürfen, sondern in der Sache selbst hätte entscheiden müssen. Entgegen der Auffassung des LSG läge ein Fall des § 150 Nr. 3 SGG deshalb vor, weil das SG bei seiner Entscheidung die Krampfanfälle, die der Kläger auf seine Hirnverletzung zurückführe, nicht als festgestellt erachtet habe. Daß er diese epileptischen Krampfanfälle nicht früher als Schädigungsfolge geltend gemacht habe, stehe dem nicht entgegen. Jedenfalls habe er einen Anspruch auf Erhöhung seiner Rente, wenn die epileptischen Anfälle mit seinen anerkannten Gesundheitsstörungen in Zusammenhang stünden und sich diese Anfälle seit 1953 verschlimmert hätten.
Im übrigen wird auf die Revisionsbegründung verwiesen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. Oktober 1965 als unzulässig zu verwerfen.
Er ist der Auffassung, daß das LSG zu Recht ein Prozeßurteil erlassen hat.
Dem Kläger war wegen Versäumnis der Revisions- und Revisionsbegründungsfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 SGG zu gewähren, weil er diese Fristen ohne sein Verschulden versäumt hat. Der Senat hat erst nach Ablauf der Fristen dem Kläger das Armenrecht mit dem ihm am 18. Februar 1966 zugestellten Beschluß vom 14. Februar 1966 bewilligt und seinen Prozeßbevollmächtigten bestellt, so daß er erst nach dem Zeitpunkt der Zustellung in der Lage war. formgerecht Revision einzulegen und zu begründen. Er hat die versäumte Rechtshandlung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Armenrechtsbeschlusses nachgeholt, um Wiedereinsetzung gebeten und die Revision auch innerhalb eines Monats nach ihrer Einlegung begründet. Dem Kläger war daher die erbetene Nachsicht für die verspätete Einlegung und Begründung der Revision zu gewähren.
Da das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat und eine Gesetzesverletzung bei der Anwendung der in der Kriegsopferversorgung geltenden Kausalitätsnorm im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG im vorliegenden Fall deshalb ausscheidet, weil das LSG über den ursächlichen Zusammenhang einer Gesundheitsstörung oder des Todes mit einer Schädigung im Sinne des BVG nicht entschieden hat, ist die Revision nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird (BSG 1, 150). Der Kläger rügt zutreffend als Verfahrensmangel eine Verletzung des § 150 Nr. 3 SGG durch das LSG.
Im vorliegenden Fall war streitig, ob dem Kläger Rente nach einer MdE um 100 v. H. statt wie bisher um 50 v. H. zusteht. Er hatte diese Rentenerhöhung mit einer Verschlimmerung seines Leidenszustandes begründet. Somit betraf die Berufung den Grad der MdE sowie eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse, ohne daß die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Grundrente davon abhing. Die Berufung war demnach gemäß § 148 Nr. 3 SGG nicht zulässig. Das Gesetz führt jedoch in § 150 SGG Ausnahmefälle an, in denen unbeschadet einer nach §§ 144 bis 149 SGG unzulässigen Berufung diese ausnahmsweise dennoch zulässig ist. Der Fall des § 150 Nr. 1 SGG lag allerdings nicht vor, weil das SG die Berufung nicht zugelassen hatte. Nach § 150 Nr. 2 SGG war die Berufung ebenfalls nicht zulässig, weil der Kläger, wie vom LSG festgestellt und vom Kläger auch nicht beanstandet worden ist, einen wesentlichen Mangel im Verfahren des SG nicht mit Erfolg gerügt hatte. Der Kläger macht jedoch zutreffend geltend, daß die Berufung nach § 150 Nr. 3 SGG zulässig war. Nach dieser Vorschrift ist die Berufung ungeachtet der §§ 144 bis 149 SGG zulässig, wenn der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung oder des Todes mit einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit oder einer Schädigung im Sinne des BVG streitig ist oder das SG eine Gesundheitsstörung nicht als feststellbar erachtet hat. Im vorliegenden Falle hatte der Kläger die Erhöhung seiner Rente ua auch damit begründet, daß er an epileptischen Anfällen leide, die sich seit 1953, also seit seinem Verschlimmerungsantrag, verschlimmert hätten. Das SG hat in seinem Urteil vom 30. März 1965 das Vorhandensein der vom Kläger behaupteten epileptischen Anfälle als nicht feststellbar erachtet und daher eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 BVG gegenüber den vorausgegangenen Bescheiden auch insofern verneint. Es hat hierzu ausgeführt, daß für eine umschriebene Hirnschädigung und für eine Epilepsie oder für eine Krampfbereitschaft nach den vorliegenden Gutachten keine Anzeichen vorhanden seien. Diese ärztliche Auffassung werde durch die Tatsache bestätigt, daß ein Anfall beim Kläger noch nicht von einem Arzt beschrieben worden sei. Die Sachverständigen seien vielmehr der Meinung, es handle sich hierbei um kollapsartige Zustände. Aus diesen Ausführungen, insbesondere auf Seite 8 des Urteils des SG, ergibt sich eindeutig, daß das SG epileptische Anfälle beim Kläger als nicht feststellbar erachtet hat, so daß der in der letzten Alternative des § 150 Nr. 3 SGG gegebene Fall der Zulässigkeit der Berufung vorlag. Demgegenüber hat das LSG ausgeführt, es erscheine fraglich, ob es sich bei den etwaigen epileptischen Anfällen als Folge der anerkannten Hirnschädigung um eine neue Gesundheitsstörung im Sinne des § 150 Nr. 3 SGG handle, jedenfalls stehe das eigene Vorbringen des Klägers der Zulässigkeit der Berufung nach dieser Vorschrift entgegen. Der Kläger habe nämlich nicht behauptet, daß die epileptischen Anfälle erst seit 1953 als Verschlimmerung seiner anerkannten Leiden auftreten, sondern daß sie jedenfalls seit 1947 bestünden, sich aber seit 1953 verschlimmert hätten. Der Kläger mache damit nicht eine neue, seit 1953 aufgetretene Gesundheitsstörung geltend, sondern begehre die Überprüfung der früheren, bindend gewordenen Entscheidung. Diese Auffassung des LSG geht fehl. Der Kläger hat erstmals in diesem Verfahren die epileptischen Anfälle geltend gemacht und sie auf seine anerkannte Hirnschädigung zurückgeführt. In dem früheren Bescheid vom 21. Januar 1953 sind jedenfalls diese Anfälle weder anerkannt worden noch ist die Anerkennung dieser Anfälle ausdrücklich abgelehnt worden. Mithin lag ein verbindlicher Bescheid über dieses Leiden nicht vor. Dem steht nicht entgegen, daß z. Zt. des Erlasses des früheren Bescheides (21. Januar 1953) die Anfälle nach der Behauptung des Klägers schon bestanden und sich später verschlimmert haben. Wenn der Kläger die Anfälle seinerzeit nicht geltend gemacht und die Versorgungsverwaltung ihre Entscheidung im Bescheid vom 21. Januar 1953 auch nicht ausdrücklich auf eine Ablehnung der Versorgung für dieses Leiden ausgedehnt hat, dann blieb es dem Kläger unbenommen, dieses Leiden noch später geltend zu machen, wie er es mit der Behauptung getan hat, daß sich das Leiden schon 1947 bemerkbar gemacht und 1953 verschlimmert habe. Ob dieses Vorbringen allein unter dem Gesichtspunkt einer Änderung der Verhältnisse oder aber unter dem Gesichtspunkt eines Antrags auf Erstanerkennung des Anfalleidens zu prüfen war, kann vom Revisionsgericht im Rahmen der Prüfung der Statthaftigkeit der Revision nicht näher untersucht werden und muß dahingestellt bleiben, weil es sich insoweit um die Anwendung materiellen Rechts handelt. Bedeutsam ist nur, daß das SG von seiner materiell-rechtlichen Auffassung aus geprüft hat, ob die behaupteten Anfälle vorliegen, und sie als nicht feststellbar erachtet hat. Damit aber hat es eine Entscheidung getroffen, die nach § 150 Nr. 3 SGG in jedem Fall der Nachprüfung durch die Berufungsinstanz unterliegt. Das LSG hat somit § 150 Nr. 3 SGG verletzt. Da die Berufung nach dieser Vorschrift zulässig war, hätte es kein Prozeßurteil fällen dürfen, sondern wäre verpflichtet gewesen, in der Sache selbst zu entscheiden. Darin liegt aber ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Die Revision ist somit statthaft und auch begründet; das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Das LSG wird auch zu prüfen haben, ob über den vom Kläger in der Berufungsinstanz begehrten Berufsschadensausgleich und die begehrte Pflegezulage zu entscheiden ist und ob es sich insoweit um eine zulässige Klageerweiterung handelt. Mangels ausreichender Feststellungen mußte die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Fundstellen