Leitsatz (redaktionell)
Die objektive Verfügbarkeit eines Ruhestandsbeamten ist nicht dadurch in Frage gestellt worden, daß er nur halbtags mittelschwere Arbeiten verrichten kann. Unter "üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes" sind solche Bedingungen zu verstehen, unter denen in nennenswertem Umfang Arbeitsverhältnisse eingegangen zu werden pflegen (Fortführung BSG 1964-02-18 11/1 RA 239/60 = BSGE 20, 190, 197 und BSG 1965-08-11 RJ 325/62 = BSGE 23, 235 und BSG 1959-10-30 7 RAr 2/58 = BSGE 11, 16).
Normenkette
AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. November 1963 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Es ist streitig, ob der Kläger für die letzten 18 Monate vor der Vollendung des 65. Lebensjahres, nämlich die Monate April 1960 bis einschließlich September 1961, Anspruch auf das vorzeitige Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hat.
Der Kläger war ursprünglich Maurer. Im Jahre 1920 trat er in den Dienst der Deutschen Reichsbahn ein; dort war er als Maschinenputzer, Reichsbahngehilfe und Wagenputzer versicherungspflichtig beschäftigt - insgesamt hat er mehr als 180 Beitragsmonate in der Invalidenversicherung zurückgelegt -, bis er 1939 als Beamter übernommen wurde. Mit Wirkung vom 1. Februar 1959 wurde er wegen dauernder Dienstunfähigkeit (Herz- und Kreislaufstörungen, Arteriosklerose) in den Ruhestand versetzt. Sein Ruhegehalt beläuft sich auf 75 v. H. seiner Bezüge als Bundesbahnsekretär.
Einen im November 1958 gestellten Antrag auf Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit lehnte die Beklagte ab, weil der Kläger noch imstande sei, als Bundesbahnsekretär alle vorkommenden Dienstgeschäfte und als Maurer leichte bis mittelschwere Arbeiten zu ebener Erde etwa fünf Stunden täglich zu verrichten (Bescheid vom 19. Januar 1959); dabei stützte sie sich auf ein Gutachten des Bahnarztes Dr. G. Die hiergegen erhobene Klage nahm der Kläger im Januar 1960 zurück, nachdem der Internist Dr. H in einem Gutachten vom 23. November 1959 zu dem Ergebnis gelangt war, der Kläger könne mittelschwere Arbeiten noch ganztägig regelmäßig ausführen.
Am 10. März 1960 beantragte der Kläger das vorzeitige Altersruhegeld unter Vorlegung einer Meldekarte des Arbeitsamtes W, nach der er sich vom 1. April 1959 an laufend als Arbeitsuchender gemeldet hatte; eine Arbeitsstelle war ihm nicht vermittelt worden.
Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 13. Mai 1960 ab, weil ein Ruhestandsbeamter nicht berufsmäßig in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig zu seine pflege (§ 75 Abs. 1 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung - AVAVG -) und deshalb auch nicht zu dem durch § 1248 Abs. 2 RVO begünstigten Personenkreis gehören könne.
Auf die hiergegen gerichtete Klage hin hat das Sozialgericht (SG) Dortmund die Beklagte am 29. November 1960 verurteilt, dem Kläger Altersruhegeld vom 1. April 1960 an zu gewähren. Die Berufung der Beklagten ist vom Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 12. November 1963 zurückgewiesen worden. Das LSG ist von der Feststellung ausgegangen, der Kläger sei bis zum 65. Lebensjahr in der Lage gewesen, leichte bis mittelschwere Arbeiten für etwa fünf Stunden täglich auszuführen; er habe sich bei seiner Arbeitslosmeldung bereit erklärt, einen Arbeitsplatz zu übernehmen, an dem täglich vier bis fünf Stunden gearbeitet werde. In rechtlicher Hinsicht hat das LSG den Kläger als arbeitslos im Sinne des § 1248 Abs. 2 RVO angesehen. Hierzu hat es ausgeführt: Arbeitslos sei, wer in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig zu sein pflege, aber vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stehe; außerdem müsse der Versicherte, der das vorzeitige Altersruhegeld beanspruche, der Arbeitsvermittlung subjektiv und objektiv zur Verfügung stehen. Die erstere Voraussetzung liege vor, weil der Kläger als Arbeitnehmer, wenn auch nicht im Sinne des Arbeitsrechts, so doch im Sinne des Rechts der Rentenversicherung, anzusehen sei. Selbst wenn man aber annehme, daß er mit seiner Übernahme als Beamter aus dem Kreis der Arbeitnehmer ausgeschieden sei, so habe er doch nach seiner Pensionierung in diesen Kreis zurückkehren können. Dies habe er getan, indem er den - aus einer Reihe objektiver Tatsachen erkennbaren - ernstlichen Willen und in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht die Möglichkeit gehabt habe, eine ihn im wesentlichen in Anspruch nehmende abhängige Arbeit aufzunehmen und dadurch Arbeitseinkommen zu erzielen. Für das Vorliegen jenes ernstlichen Willens spreche, daß das - an sich schon niedrige - Einkommen des Kläger durch seine vorzeitige Pensionierung gemindert worden sei (Verlust von 25 % des Gehalts und Differenz zwischen den Ortszuschlägen S und A), aber auch daß er seinem Berufsbild nach bis zu seiner Pensionierung ständig in Arbeit gestanden habe. Dem stehe nicht entgegen, daß der Kläger seiner vorzeitigen Pensionierung nicht widersprochen habe, auch nicht, daß er sich auf die Vermittlung des Arbeitsamts verlassen und sich nicht selbst um die Erlangung einer Arbeitsgelegenheit bemüht habe. Der Kläger habe mit seiner Bereiterklärung, (nur) vier bis fünf Stunden täglich zu arbeiten, nicht die Absicht verfolgt, eine Arbeitsvermittlung praktisch unmöglich zu machen. Die eigene Einschätzung seiner Leistungsfähigkeit entspreche den Bekundungen der Sachverständigen Dr. G und Prof. Dr. T; ihnen sei der Vorzug zu geben vor dem Gutachten des Dr. H - Auch objektiv habe der Kläger der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestanden; er sei zumindest zu halbtägiger mittelschwerer Arbeit fähig gewesen. Die objektive Verfügbarkeit des Klägers entfalle nicht deswegen, weil nach der Bekundung eines Angestellten des Arbeitsamts W in diesem Bezirk keine auf fünf Stunden begrenzte Arbeitsmöglichkeiten vorhanden gewesen seien. Ein Versicherter stehe der Arbeitsvermittlung auch dann zur Verfügung, wenn er (nur) außerhalb seines Wohnorts vermittelt werden und dann im Wege des Pendelns oder nach einem Umzug der Arbeit nachgehen könne.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und diese wie folgt begründet: Die Auffassung des LSG, daß ein Ruhestandsbeamter als Arbeitnehmer im Sinne des Rentenversicherungsrechts anzusehen sei, treffe nicht zu; sie übersehe, daß der Beamte durch seine Versicherungsfreiheit aus dem Rahmen des Versicherungsrechts herausfalle. Das Gesamteinkommen des Klägers - Ruhegehalt und Altersruhegeld - erreiche etwa die Bezüge eines aktiven Bundesbahnsekretärs; darin liege eine wesentliche Bevorzugung gegenüber anderen Versicherten. Der Kläger habe ohne das vorzeitige Altersruhegeld keine empfindliche Einbuße seines Einkommens erlitten, da er die Höchstpension beziehe. Wohl hätte er in den Kreis der Arbeitnehmer im Sinne des Arbeitsrechts zurückkehren können. Dies habe er jedoch nicht getan; er habe keine versicherungspflichtige Tätigkeit aufgenommen, sondern sich lediglich - ergebnislos - beim Arbeitsamt gemeldet. Im übrigen sei der Kläger auch nicht ernstlich arbeitsbereit gewesen; er habe durch die Meldung beim Arbeitsamt nur den Anschein der Arbeitsbereitschaft erweckt.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Das LSG hat mit Recht die Berufung als zulässig behandelt und in der Sache entschieden. Die Berufung betraf nicht nur Rente für abgelaufene Zeiträume (§ 146 SGG); denn zur Zeit der Berufungseinlegung erstreckte sich der Klageanspruch noch teilweise in die Zukunft.
Die im Mittelpunkt der Revisionsbegründung stehende Rechtsfrage, ob ein Ruhestandsbeamter arbeitslos im Sinne des § 1248 Abs. 2 RVO sein kann, ohne daß er durch Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung in den Kreis der berufsmäßigen Arbeitnehmer zurückgekehrt oder nach seiner Zurruhesetzung erstmalig in diesen Kreis eingetreten war, wird in der insoweit als gefestigt anzusehenden Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Ergebnis bejaht. Zum Teil wird dies damit gerechtfertigt, daß die Eigenschaft, berufsmäßig als Arbeitnehmer tätig zu sein (§ 75 Abs. 1 AVAVG), schon durch den ernsthaften Entschluß zur Aufnahme oder Wiederaufnahme abhängiger Arbeit begründet werde (BSG 18, 287; 20, 190). Demgegenüber hat der erkennende Senat aus der Übernahme einer im Recht der Arbeitslosenhilfe bestehenden Regelung in das Rentenversicherungsrecht die Erwägung hergeleitet, daß bei der Anwendung des § 1248 Abs. 2 RVO ein Beamter so anzusehen sei, als pflege er berufsmäßig in der Hauptsache wie ein Arbeitnehmer tätig zu sein (BSG 23, 235). Beide Begründungen führen zu dem Ergebnis, daß der Anspruch eines Ruhestandsbeamten auf das vorzeitige Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 2 RVO nicht ohne weiteres daran scheitert, daß er über eine Altersversorgung aus dem Beamtenverhältnis verfügt und nicht in nicht allzu weit zurückliegender Zeit rentenversicherungspflichtig beschäftigt gewesen ist. Gegen diese Rechtsauffassung hat sich die Beklagte nach dem Erlaß der o. a. Entscheidung des erkennenden Senats auch nicht mehr gewandt; sie hat vielmehr den Schwerpunkt ihrer Angriffe gegen das Berufungsurteil dahin verlagert, daß es im Falle des Klägers an den weiteren - dem § 76 AVAVG anlehnungsweise zu entnehmenden - Erfordernissen der "Arbeitslosigkeit", nämlich der Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung, fehle.
Nach § 76 AVAVG steht der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, wer ernstlich bereit (Nr. 1), nach seinem Leistungsvermögen imstande (Nr. 2) und nicht durch sonstige Umstände gehindert ist (Nr. 3), eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben, und nach der im Arbeitsleben herrschenden Verkehrsauffassung für eine Vermittlung als Arbeitnehmer in Betracht kommt.
Zur "ernstlichen" Arbeitsbereitschaft gehört, daß diese durch objektive Umstände belegt ist, die vernünftige Zweifel an der Arbeitsbereitschaft ausschließen (BSG 20, 190, 197). Welcher objektiver Sachverhalt zu fordern ist, entscheiden die Umstände des Einzelfalles. Die bloße Arbeitslosmeldung genügt in der Regel nicht, jedenfalls dann nicht, wenn der Versicherte längere Zeit vor der Arbeitslosmeldung keine Arbeitnehmertätigkeit mehr ausgeübt hat oder sein Arbeitsleben infolge Erreichens einer gesetzlich oder vertraglich vorgesehenen Altersgrenze üblicherweise beendet ist und ein öffentlich-rechtlicher Versorgungsanspruch besteht (BSG SozR § 1248 RVO Nrn. 19 und 33). Das LSG hat den Begriff der ernstlichen Arbeitsbereitschaft in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ausgelegt und auch in der Subsumtion des Sachverhalts unter diesen Begriff nicht gefehlt. An objektiven Merkmalen, die neben der Arbeitslosmeldung für die Arbeitsbereitschaft des Klägers sprachen, hat dem LSG genügt, daß er zwei Jahre und neun Monate vor der Zeit aus einem lückenlosen Arbeitsleben entfernt und dadurch in seinem erwarteten Einkommen geschmälert worden war. Diese Auffassung ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Es ist auch nichts dagegen einzuwenden, daß das LSG die einschränkende Erklärung des Klägers, er könne nur halbtägig arbeiten, nicht als Indiz gegen das Vorhandensein seiner Arbeitsbereitschaft gewertet hat. Die Angabe des Klägers über seine Leistungsfähigkeit entsprach den Untersuchungsergebnissen des Bahnarztes Dr. G, die später durch Prof. Dr. T bestätigt wurden.
Die objektive Verfügbarkeit des Klägers ist nicht dadurch in Frage gestellt worden, daß er nur halbtägig - mittelschwere - Arbeiten verrichten konnte. Das Gesetz verlangt die Fähigkeit zu einer Beschäftigung unter den "üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes". Darunter sind solche Bedingungen zu verstehen, unter denen in nennenswertem Umfang Arbeitsverhältnisse eingegangen zu werden pflegen; auch Dauer und Verteilung der Arbeitszeit gehören in der Regel zu diesen Bedingungen (BSG 11, 16). Die Entscheidung hängt demnach davon ab, ob in den Jahren 1959/1960 in dem für den Kläger in Betracht kommenden Beschäftigungsbereich Halbtagsbeschäftigungen "üblich" in dem dargelegten Sinne waren. Die vom LSG hierzu getroffenen tatsächlichen Feststellungen rechtfertigen diese Annahme und damit die Auffassung, daß der Kläger der Arbeitsvermittlung objektiv zur Verfügung gestanden habe. Nach dem festgestellten Sachverhalt konnte der Kläger als Verkäufer in Kiosken, als Fahrradwächter, Montierer in der Rundfunk- und Elektroindustrie, Maschinenwärter, Schalttafelwärter, Kontrolleur in der Nahrungs- und Genußmittelindustrie, Probenehmer, Packer, Verwieger oder sonst als Hilfsarbeiter in gewerblichen Betrieben halbtägig tätig sein. Daß es Teilzeitarbeitsplätze dieser Art zu der in Betracht kommenden Zeit gegeben hat, ist gleichfalls - von der Revision unangegriffen - festgestellt worden.
Da auch kein Hinderungsgrund im Sinne des § 76 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG ersichtlich ist, der die Verfügbarkeit des Klägers beeinträchtigt haben könnte, hat das LSG ihn mit Recht als arbeitslos im Sinne des § 1248 Abs. 2 RVO angesehen. Die sonstigen Voraussetzungen des Gesetzes - Vollendung des 60. Lebensjahres und Erfüllung der Wartezeit - sind gegeben. Die Vorinstanzen haben dem Kläger daher mit Recht das vorzeitige Altersruhegeld zugesprochen.
Die Revision der Beklagten muß hiernach als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen