Entscheidungsstichwort (Thema)
Grenze freier richterliche Beweiswürdigung
Orientierungssatz
Zur Grenze freier richterliche Beweiswürdigung:
Nach § 128 SGG hat das Gericht seine Entscheidung nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu treffen und im Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Eine Verletzung des § 128 SGG liegt vor, wenn das Gericht die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschreitet oder die Gründe des Urteils Umstände, die Zweifel an der getroffenen Entscheidung begründen könnten, nicht behandeln.
Normenkette
SGG § 128
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 13.10.1959) |
SG Hildesheim (Entscheidung vom 12.06.1957) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 13. Oktober 1959 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der 1906 geborene Kläger war von 1933 bis zum Ende des zweiten Weltkrieges bei einem Versuchsverband der Deutschen Kriegsmarine zunächst als Angestellter beschäftigt. Am 1. März 1939 wurde er als Marineingenieur in das Beamtenverhältnis übernommen. Während seiner Tätigkeit bei der Kriegsmarine führte er Versuche verschiedenster Art auf dem Gebiet der Seefahrt und der Seekriegsführung durch.
Mit Bescheid vom 20. Mai 1950 bewilligte die Versorgungsbehörde dem Kläger Rente wegen Bänderschwäche des linken Kniegelenks, Neigung zu entzündlichen Reizzuständen im Bereich des linken Ellennerven und Innenohrschwerhörigkeit links nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. Mit Umanerkennungsbescheid vom 20. Juli 1951 gewährte das Versorgungsamt die Rente unter Übernahme der anerkannten Schädigungsfolgen nach dem gleichen Grad der MdE ohne vorherige Nachuntersuchung auch nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Im September 1952 stellte der Kläger einen Antrag auf Versorgung wegen einer Hauterkrankung. Er gab an, daß er sich dieses Leiden als Versuchsingenieur der Kriegsmarine beim Umgang mit Quecksilber, Sprengmitteln, präparierten Registrierpapieren, verschiedenen Farben und Fetten sowie mit Bojenseilen aus Hanf zugezogen habe. Im Gutachten der Universitäts-Nervenklinik. Göttingen vom 23. Mai 1953 wurde eine MdE wegen der anerkannten Leiden und wegen der beim Kläger bestehenden Pilzerkrankung beider Hände und Füße verneint und die Erstattung eines hautfachärztlichen Gutachtens wegen der Geringfügigkeit der Hauterkrankung nicht für erforderlich gehalten. Das gleiche gelte für das Ohrenleiden. Daraufhin entzog das Versorgungsamt durch Neufeststellungsbescheid vom 23. Juli 1953 die bisher gewährte Rente mit Wirkung vom 1. September 1953, weil eine MdE wegen der anerkannten Leiden nicht mehr vorliege und ein ursächlicher Zusammenhang der bestehenden Pilzerkrankung mit dem Wehrdienst völlig unwahrscheinlich sei. Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 12. Juni 1957 wies das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 13. Oktober 1959 zurück. Es sei nicht erwiesen, daß die Epidermophytie erstmalig während des Wehrdienstes aufgetreten sei. Wie sich aus der Freiwilligenuntersuchungsliste vom Dezember 1938 ergebe, seien u.a. als Körperfehler "oberflächliche, vermöge ihres Sitzes und ihrer Ausdehnung nicht hindernde Narben" vom untersuchenden Arzt festgestellt worden. Auch habe der Kläger seinerzeit selbst als vor dem Diensteintritt überstandene Erkrankungen angegeben: 1927 Gelbsucht, dyshydrotisches Ekzem an beiden Handballen, 1938 Erguß am linken Fuß". Da der Kläger nach seinen eigenen Angaben schon seit seiner Tätigkeit als technischer Assistent vor dem Dienst bei der Kriegsmarine die gleiche Versuchsarbeit mit gleichen Schädigungsmöglichkeiten geleistet habe, sei es durchaus möglich, daß eine Hautempfindlichkeit oder Hauterkrankung erstmalig schon vor dem Diensteintritt im Jahre 1933 vorgelegen habe. Hiergegen spreche auch nicht, daß bei der Untersuchung 1936 diese Krankheitserscheinungen nicht festgestellt worden seien, weil die Auswirkungen dieser Krankheit so wechselnd und gering seien, daß sie ohne besonderen Hinweis einem ambulant untersuchenden Militärarzt nicht aufzufallen brauchten. Die Hauterkrankung könne auch nicht als Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung anerkannt werden. Eine solche Verschlimmerung wäre nur dann auf den Wehrdienst zurückzuführen, wenn gerade die Tätigkeit des Klägers als Versuchsingenieur allein und nicht auch außerhalb des Wehrdienstes liegende schädigende Ereignisse diese Verschlimmerung hätten herbeiführen können. Diese letzte von Prof. Dr. M … bejahte und von der Universitäts-Hautklinik Göttingen verneinte Frage könne jedoch unentschieden bleiben, denn selbst wenn davon auszugehen wäre, daß eine Verschlimmerung allein durch den Wehrdienst eingetreten sei, so sei diese seit Kriegsende, zumindest aber bis zur Stellung des ersten Versorgungsantrages 1949, längst abgeklungen. Seitdem hätten die Hautflechten offensichtlich keinerlei Beschwerden verursacht, weil sie der Kläger erst 7 Jahre nach Beendigung seines Wehrdienstes erstmalig geltend gemacht habe. Zwar könne Zwischenzeitlich 1952 eine gewisse Verschlimmerung wieder vorgelegen haben Hierbei habe es sich aber mit Wahrscheinlichkeit um die Auswirkung neuer schädlicher Reize gehandelt. Darüber hinaus sei der Senat aber in Übereinstimmung mit den Gutachten der Universitäts-Hautklinik Göttingen der Ansicht, daß für das Auftreten der Pilzflechte während des Wehrdienstes lediglich ein zeitlicher Zusammenhang nachgewiesen, ein ursächlicher dagegen nur möglich sei. Soweit der Kläger weiterhin einen Gehörschaden als Schädigungsfolge geltend mache, sei dieser Forderung bereits durch das Anerkenntnis einer "Innenohrschwerhörigkeit links" Rechnung getragen. Für dieses Leiden sei die MdE selbst unter Einschluß des Ohrensausens mit 10 v.H. ausreichend bewertet. Zur Zeit bestehe lediglich eine leichte linksseitige retrolabyrinthäre Störung bei normalem Hörvermögen rechts. Als Ursache dieser Störung komme nach dem Ergebnis der Untersuchung durch die Universitäts-Hals-Nasen-Ohrenklinik Kiel weder ein Mittelohr- oder Rachenprozeß noch eine Kieferhöhlenentzündung in Betracht. Letztere sei jetzt nicht mehr nachweisbar. Insbesondere könne nach dem Trommelfellbefund nicht angenommen werden, daß es sich um einen sogenannten Tubenkatarrh handele. Bei dieser Sachlage erreiche die MdE - auch unter Berücksichtigung der übrigen anerkannten Schädigungsfolgen - insgesamt keinen rentenberechtigenden Grad. Nach dem Gutachten der Universitäts-Nervenklinik Göttingen seien auch die Ausfall- bzw. Krankheitserscheinungen am linken Kniegelenk und am linken Arm so gering, daß sie keinen ins Gewicht fallenden erwerbsmindernden Wert besäßen.
Mit der nicht zugelassenen Revision beantragte der Kläger, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Bescheid des Versorgungsamtes Hildesheim vom 23. Juli 1953 abzuändern und den Widerspruchsbescheid vom 13. April 1955 sowie das Urteil des SG Hildesheim vom 12. Juni 1957 aufzuheben, ferner den Beklagten zu verurteilen, unter zusätzlicher Anerkennung von Epidermophytie als Folge einer Hautschädigung sowie Kieferhöhleneiterung beiderseits mit Tuben-Mittelohrkatarrh als Schädigungsfolgen im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes über den 1. September 1953 hinaus Rente nach einer MdE um 40 v.H. zu gewähren
Die Revision rügt u.a. als Verfahrensmangel, das LSG sei bei der Verneinung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen seinem Hautleiden und einer Schädigung im Sinne des BVG von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen und habe gegen die Denkgesetze verstoßen. Die Feststellung des LSG, der Kläger habe bei einer ärztlichen Freiwilligenuntersuchung im Dezember 1938 angegeben, er sei bereits vor Dienstantritt bei der Marine an einem Hautleiden erkrankt, stehe im Widerspruch zu den Unterlagen, auf Grund deren das Berufungsgericht diese Feststellung getroffen habe. Aus der bei den Akten befindlichen Fotokopie der Untersuchungsliste vom Dezember 1938 gehe hervor, daß es sich damals um keine Freiwilligenuntersuchung gehandelt habe; denn das Wort Freiwilligen sei in dem Formular "Freiwilligenuntersuchungsliste" durchgestrichen. Außerdem habe das LSG auch die Eintragung in dieser Liste unter der Spalte "vor dem Dienstantritt überstandene Erkrankungen usw." unrichtig wiedergegeben. In dieser Spalte sei eingetragen: "1927 Gelbsucht. dyshydrotisches Ekzem an beiden Handballen, 1938 Erguß am linken Fuß". Diese Eintragung enthalte nicht - wie das LSG angenommen habe - ein Komma hinter dem Wort Gelbsucht. Aus der tatsächlich richtigen Eintragung aber habe das LSG nicht folgern können, daß der Kläger bereits vor 1933 an einem Hautleiden erkrankt gewesen sei. Die in der Untersuchungsliste enthaltene Spalte "vor dem Dienstantritt überstandene Erkrankungen usw." beziehe sich nicht allein auf die Zeit vor Juni 1933. Das habe das LSG aus dem Umstand erkennen können, daß die Untersuchung im Dezember 1938 anläßlich seiner Übernahme in das Beamtenverhältnis vorgenommen worden sei. Außerdem habe es aber auch aus der Eintragung "1938 Erguß am linken Fuß" folgern müssen, daß mit der Frage "vor dem Dienstantritt überstandene Erkrankungen" nicht die Zeit vor 1933 gemeint war.
Der Beklagte beantragte, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise sie als unbegründet zurückzuweisen. Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und die vom Kläger erhobenen Rügen für unbegründet.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) und daher zulässig. Sie ist auch statthaft, weil das Verfahren des Berufungsgerichts an einem wesentlichen Mangel leidet, den die Revision gerügt hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Die Feststellungen des LSG über den Inhalt der Untersuchungsliste vom Dezember 1938 und die daraus gezogene Schlußfolgerung, die Angaben des Klägers über die Ekzemerkrankung bezögen sich auf die Zeit vor dem Diensteintritt bei der Marine im Jahre 1933, verstoßen gegen § 128 SGG. Nach dieser Vorschrift hat das Gericht seine Entscheidung nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu treffen und im Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Eine Verletzung des § 128 SGG liegt vor, wenn das Gericht die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschreitet oder die Gründe des Urteils Umstände, die Zweifel an der getroffenen Entscheidung begründen könnten, nicht behandeln (vgl. Peters/Sautter/Wolff, Komm. z. Sozialgerichtsbarkeit, § 128 Anm. 3). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Bei der Wiedergabe der Untersuchungsliste vom Dezember 1938 ist das LSG von einem Tatbestand ausgegangen, der im Widerspruch zu der Aktenlage steht. Es hat zunächst die Untersuchungsliste vom 9. Dezember 1938, bei der das Wort "Freiwilligen" gestrichen ist, mit der "Freiwilligenuntersuchungsliste" vom 21. November 1938 verwechselt. Nur die Untersuchungsliste vom November 1938 trägt den Aufdruck "Freiwilligenuntersuchungsliste" und enthält Angaben des Klägers über ein dyshydrotisches Ekzem an beiden Handballen. Darüber hinaus hat das LSG die in der Freiwilligenuntersuchungsliste vom November 1938 enthaltene Eintragung in der Spalte "Vor dem Diensteintritt überstandene Erkrankungen und Verwundungen, erbliche Belastungen" unrichtig übernommen. Entgegen seiner Feststellung steht zwischen den Eintragungen "1927 Gelbsucht" und " dyshydrotisches Ekzem an beiden Handballen" kein Komma, sondern ein Punkt.
Soweit das LSG angenommen hat, daß die in der Freiwilligenuntersuchungsliste enthaltenen Angaben des Klägers über eine Hauterkrankung dahin zu verstehen seien, daß diese Erkrankung in die Zeit vor dem Diensteintritt 1933 falle, bestehen begründete Zweifel, ob das Berufungsgericht das Gesamtergebnis des Verfahrens in ausreichendem Maße berücksichtigt hat. Da die Untersuchungen des Klägers 1938 vor dessen Übernahme in das Wehrmachts-Beamtenverhältnis erfolgten und außerdem die in den Untersuchungslisten vom November und Dezember 1938 enthaltenen Eintragungen über vor dem Diensteintritt überstandene Erkrankungen auch nach 1933 erlittene Gesundheitsstörungen betreffen, nämlich einen 1938 erlittenen Bluterguß im linken Fuß, können sich die Angaben des Klägers über seine Hauterkrankung auch auf die Zeit nach seinem 1933 erfolgten Diensteintritt bei der Marine beziehen. Da das LSG diese Möglichkeit nicht geprüft hat, ist nicht auszuschließen, daß es diesen wesentlichen Umstand bei seiner Entscheidung, ob die Hauterkrankung während der Dienstzeit entstanden sein kann, übersehen oder nicht beachtet hat.
Dieser Verfahrensmangel begründet einen Verstoß gegen § 128 SGG und macht die Revision statthaft. Dem steht nicht entgegen, daß der Kläger § 128 SGG als verletzte Verfahrensnorm nicht besonders genannt hat, da aus seinem Vorbringen mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen ist, daß er diese Vorschrift als verletzt ansieht (BSG 1. 227).
Ob auch die übrigen, vom Kläger noch erhobenen Verfahrensrügen durchgreifen, konnte der Senat daher offen lassen. Die Revision ist auch begründet. Das Urteil des LSG beruht auf der gerügten Gesetzesverletzung, denn es ist möglich, daß das Urteil des LSG bei gesetzmäßigem Verfahren anders ausgefallen wäre. Der unrichtig wiedergegebene Inhalt der Untersuchungslisten und die hieraus abgeleitete Folgerung über den Zeitpunkt des ersten Auftretens der Hauterkrankung bildeten die Grundlage für die Feststellung des LSG, die Entstehung dieses Leidens während des Wehrdienstes bei der Marine sei nicht erwiesen. Von dieser Feststellung ist das Berufungsgericht wiederum bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Hauterkrankung und der Tätigkeit des Klägers bei der Marine ausgegangen. Zwar hat es auch ausgeführt, es sei übereinstimmend mit dem Gutachten der Universitäts-Hautklinik Göttingen der Ansicht, daß hinsichtlich des Auftretens der Pilzflechte während des Wehrdienstes lediglich ein zeitlicher Zusammenhang bestehe, ein ursächlicher Zusammenhang dagegen nur möglich sei. Auf diese Ausführungen hat das Berufungsgericht seine Entscheidung aber nicht gestützt. Sie sind in den Urteilsgründen nur beiläufig erwähnt. Auch ist das LSG auf das der Universitäts-Hautklinik widersprechende Gutachten von Prof. Dr. M. nicht näher eingegangen. Dies wäre aber - wenn es sich nicht nur um eine beiläufige Erwägung gehandelt hätte - erforderlich gewesen, da Prof. Dr. M. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen hat, daß der Wehrdienst in besonderem Maße geeignet gewesen sei, die Entstehung einer Epidermophytie zu begünstigen. Das angefochtene Urteil unterliegt deshalb der Aufhebung. Da der Senat keine eigenen tatsächlichen Feststellungen treffen kann, ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird auch zu prüfen haben, ob die bereits getroffenen Feststellungen ausreichen, um den Kläger für die Zeit vor dem 1. März 1959, als er noch im Angestelltenverhältnis war, dem versorgungsrechtlich geschützten Personenkreis (§§ 1 - 3 BVG) zuzurechnen. Ferner wird es zu erwägen haben, ob bei richtiger Würdigung des Inhalts der Untersuchungslisten dem Antrag des Klägers auf Einholung eines weiteren Gutachtens zu entsprechen ist.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen