Leitsatz (redaktionell)
Ein Anspruch auf Entschädigung nach 5. BKVO Nr 19 der Anl besteht grundsätzlich nur, wenn der Versicherte aus dem objektiv gegebenen Zwang zum Berufswechsel die Folgerung gezogen und den 1. Teil des Berufswechsels, nämlich die Aufgabe des bisherigen Berufs, verwirklicht hat. Ausnahmsweise kann sich allerdings ein Versicherter aus triftigen Gründen genötigt sehen, trotz objektiv bestehenden Zwanges zum Berufswechsel einstweilen in seinem bisherigen Beruf weiterzuarbeiten, zB aus wirtschaftlichen Gründen, wegen des Verhaltens des Versicherungsträgers oder unabweisbaren Erfordernissen des Unternehmens. In einem solchen Falle darf der Entschädigungsanspruch nicht vom Vollzug des Berufswechsels abhängig gemacht werden.
Normenkette
BKVO 5 Anl 1 Nr. 19 Fassung: 1952-07-26; BKVO 3 Anl 1 Nr. 19 Fassung: 1952-07-26
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. Juli 1957 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger ist Inhaber eines Gartenbauunternehmens und als solcher Mitglied der beklagten Berufsgenossenschaft. Er leidet an einer Überempfindlichkeit der Haut gegen den Blütenstaub verschiedener in seinem Betrieb vorkommender Pflanzen, vor allem der Kokardenblumen. Als Folge solcher Einwirkungen tritt bei dem Kläger seit 1949 alljährlich im Sommer eine Hauterkrankung an den Händen und im Gesicht auf, die im Herbst wieder abklingt.
Im August 1953 beantragte der Kläger, die Erkrankung als Berufskrankheit anzuerkennen und ihm Entschädigung nach den Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren. Durch Bescheid vom 26. November 1954 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 19 der Anlage zur Dritten Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten (3. BKVO) in der Fassung der 5. BKVO ab, weil die Hauterkrankung des Klägers zwar beruflich bedingt und wiederholt rückfällig sei, aber kein unbedingter Zwang zum Wechsel des Berufs bestehe. Die Beklagte erklärte sich jedoch bereit, aufgrund des § 5 der 3. BKVO für die Zeit des Auftretens der Entzündungserscheinungen (Juni bis September, jeden Jahres) eine Übergangsrente in Höhe der Hälfte der Vollrente, berechnet nach dem durch die Satzung festgelegten Jahresarbeitsverdienst (JAV.) von 2.700,- DM (75,- DM monatlich) und beginnend mit dem Monat Juni 1955, als wirtschaftlichen Ausgleich zu gewähren. Zugleich forderte die Beklagte den Kläger auf, die gefährdenden Tätigkeiten zu unterlassen.
Entsprechend der dem Bescheid beigefügten Rechtsmittelbelehrung legte der Kläger hiergegen innerhalb der gesetzlichen Frist Widerspruch ein mit dem Begehren, die Hauterkrankung als Berufskrankheit anzuerkennen und die Übergangsrente nach einem JAV. von 9.000,- DM zu berechnen. Der Antrag auf Berücksichtigung eines JAV. in dieser Höhe wurde darauf gestützt, daß der Kläger eine in § 40 Abs. 2, § 45 der Satzung vorgesehene freiwillige Zusatzversicherung von 6.300,- DM mit Wirkung vom 15. Januar 1954 abgeschlossen hatte.
Der Widerspruch hatte keinen Erfolg. Der Widerspruchsbescheid vom 21. Januar 1955 enthält die Belehrung, daß er mit der Klage zum Sozialgericht (SG.) Hamburg angefochten werden könne. Durch Beschluß vom 12. Februar 1955 wurde diese Belehrung dahin berichtigt, daß für die Klage das SG. Bayreuth zuständig sei.
Die rechtzeitig erhobene Klage ist vom SG. durch Urteil vom 28. Juni 1955 mit der Begründung abgewiesen worden, die Hautkrankheit des Klägers könne nicht als Berufskrankheit nach Nr. 19 der Anlage zur BKVO anerkannt werden, weil es an der Voraussetzung fehle, daß der Beruf aufgegeben worden sei; der Beweis, daß die Krankheit zum Wechsel des Berufs zwinge, sei nur dadurch zu erbringen, daß der Wechsel tatsächlich durchgeführt werde.
Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG.) hat das Rechtsmittel durch Urteil vom 24. Juli 1957 mit folgender Begründung zurückgewiesen: Der Kläger leide zwar an einer wiederholt rückfälligen Hauterkrankung, eine Entschädigung nach Nr. 19 der Anlage zur 5. BKVO sei jedoch nicht möglich, weil die Erkrankung nicht zum Wechsel des Berufs zwinge. Diese Voraussetzung sei erst erfüllt, wenn der Berufswechsel tatsächlich vollzogen sei. Dies folge aus dem Sinn der Vorschrift, durch Fernhalten von den berufsbedingten schädigenden Reizstoffen Verschlimmerungen der Hauterkrankung zu verhüten und nach Möglichkeit deren Ausheilung zu erreichen. Der Kläger sei jedoch weiter in seinem Beruf tätig, wenn er sich auch nach seiner Behauptung nunmehr vorwiegend mit der Ausführung von Erd-, Straßen- und Wegebauarbeiten beschäftige. Er habe seinen Gärtnereibetrieb nicht aufgegeben, sondern lediglich eine interne Umgestaltung des Betriebes vorgenommen. Auch bei der Leitung des Betriebes bestehe für den Kläger die Gefahr, daß er sich den Reizstoffen aussetze.
Hinsichtlich der Übergangsrente hat das LSG. ausgeführt: Die Beklagte habe die Rente mit Recht nach dem durch die Satzung festgelegten JAV. von 2.700,- DM berechnet. Der JAV. von 9.000,- DM, auf den der Kläger die Versicherung freiwillig erhöht habe, könne nicht zugrunde gelegt werden, weil die Zusatzversicherung erst am 15. Januar 1954 wirksam geworden, als "Zeitpunkt des Unfalls" aber der 15. Mai 1951 anzunehmen sei. Dies ergebe sich aus § 3 Abs. 2 der 3. BKVO, der für die Berechnung der Übergangsrente nach § 5 der 3. BKVO auch dann anzuwenden sei, wenn eine zur Entschädigung verpflichtende Berufskrankheit noch nicht vorliege.
Das LSG. hat die Revision zugelassen, weil es die Frage, ob zur Entschädigung einer Hauterkrankung nach Nr. 19 der Anlage zur 5. BKVO der Wechsel des Berufs vollzogen sein muß, als eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung angesehen hat.
Das Urteil ist dem Kläger am 17. Oktober 1957 zugestellt worden. Er hat hiergegen am 9. November 1957 Revision eingelegt und diese am 16. Dezember 1957 begründet. Die Revision hält die Auffassung der Vorinstanzen, eine Berufskrankheit im Sinne der Nr. 19 der Anlage zur 5. BKVO könne erst angenommen werden, wenn der Berufswechsel vollzogen sei, für unrichtig. Sie führt aus: Vielfach sei der Erkrankte vor der Anerkennung seiner Krankheit als Berufskrankheit wirtschaftlich nicht in der Lage, seinen Beruf zu wechseln. Dies gelte auch für den Kläger, vor allem wegen seines relativ hohen Alters und seiner spezialisierten Berufsausbildung und Kenntnisse. Soweit ihm ein Berufswechsel möglich sei, habe er diesen durch die Beschränkung seiner Tätigkeit auf Erdarbeiten vollzogen; der vollständige Wechsel sei ihm schon deshalb nicht zuzumuten, weil die Beklagte die Notwendigkeit hierzu stets verneint habe. Die Berufsfürsorge, die sie dem Kläger durch Zahlung von je 75,- DM für die Monate Juni bis September gewähre, sei unzureichend.
Der Kläger beantragt,
1.) den Bescheid vom 26. November 1954, den Widerspruchsbescheid vom 21. Januar 1955 und die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben,
2.) die Beklagte zu verurteilen, die bei dem Kläger bestehende allergische Dermatitis als Berufskrankheit anzuerkennen und ihm rückständiges Krankengeld von 2.474,- DM sowie eine dem Grad der Minderung seiner Erwerbsfähigkeit entsprechende Rente vom 15. August 1952 an zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, die Revisionsbegründung entspreche insoweit, als sie das Übergangsgeld nach § 5 der 3. BKVO betreffe, nicht den Erfordernissen des § 164 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). In der Sache selbst tritt sie im wesentlichen der Begründung des angefochtenen Urteils bei.
II
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und den gesetzlichen Erfordernissen entsprechend begründet worden. Letzteres gilt entgegen der Auffassung der Beklagten auch hinsichtlich des Anspruchs auf Gewährung einer Übergangsrente (§ 5 BKVO) nach einem JAV. von 9.000,- DM. Insoweit läßt die Revisionsbegründung - auch ohne Bezugnahme auf sonstige Schriftsätze - noch in ausreichendem Maße erkennen, daß gerügt werden sollte, die richtige Anwendung des § 3 Abs. 2 der 3. BKVO führe nicht zur Annahme eines JAV. von 2.700,- DM, sondern eines solchen von 9.000,- DM. Die Revision ist somit zulässig.
Sachlich hatte sie insofern Erfolg, als sie zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. geführt hat.
Das LSG. hat den Entschädigungsanspruch des Klägers nach Nr. 19 der Anlage zu der am 1. August 1952 in Kraft getretenen 5. BKVO beurteilt. Ob dies richtig ist oder ob, wenn der Versicherungsfall vor diesem Zeitpunkt eingetreten sein sollte, Nr. 15 der 4. BKVO angewendet werden muß, ist für die zu treffende Entscheidung unerheblich, weil die beiden Vorschriften wörtlich übereinstimmen.
Nach den Feststellungen des LSG. leidet der Kläger an einer wiederholt rückfälligen Hauterkrankung. Streitig ist, ob die Erkrankung "zum Wechsel des Berufs zwingt". In der Auslegung dieser Anspruchsvoraussetzung ist der Senat der Auffassung der Revision nicht gefolgt, daß schon die objektiv bestehende Notwendigkeit des Berufswechsels den Versicherungsträger zur Entschädigung verpflichte. Diese Auffassung läßt sich allerdings mit dem Wortlaut des Gesetzes vereinbaren, zumal darin nicht die Vergangenheitsform "gezwungen haben", sondern die Gegenwartsform "zwingen" verwendet wird. Demgegenüber weist jedoch die herrschende Lehre (z. B. Schulte-Holthausen, BG. 1939 S. 285 (288); Podzun, WzS. 1954 S. 313 (316); Noeske, BG. 1958 S. 203 (205); LSG. Celle, Breithaupt 1955 S. 1155; LSG. Nordrhein-Westfalen, BG. 1955 S. 225) mit Recht darauf hin, daß eine so weite Auslegung des Gesetzes es dem Versicherten ermöglichen würde, wegen einer schweren oder wiederholt rückfälligen Hauterkrankung eine Rente zu beziehen, gleichwohl aber in dem gefährdenden Beruf weiter tätig zu bleiben und sich dadurch Verschlimmerungen des Hautleidens zuzuziehen, die zu Rentenerhöhungen führen müßten. Ein solches Ergebnis läßt sich mit dem Zweck der BKVO nicht vereinbaren. Deshalb muß nach der Auffassung des Senats grundsätzlich verlangt werden, daß aus dem objektiv gegebenen Zwang zum Berufswechsel der Versicherte auch seinerseits die Folgerungen gezogen und den ersten Teil des Berufswechsels, nämlich die Aufgabe des bisherigen Berufs, verwirklicht hat. Ausnahmsweise kann sich allerdings ein Versicherter, wie der Senat in seiner zur Veröffentlichung bestimmten Entscheidung vom 30. Oktober 1959 - 2 RU 5/58 - näher ausgeführt hat, aus triftigen Gründen genötigt sehen, trotz objektiv bestehenden Zwangs zum Berufswechsel einstweilen in seinem bisherigen Beruf weiterzuarbeiten. Solche Gründe können z. B. auf der wirtschaftlichen Lage des Erkrankten, dem Verhalten des Versicherungsträgers oder auf unabweisbaren Erfordernissen des Unternehmens beruhen. In einem solchen Falle darf der Entschädigungsanspruch nicht vom Vollzug des Berufswechsels abhängig gemacht werden.
Hiernach hängt der Entschädigungsanspruch des Klägers davon ab, ob für ihn ein objektiver Zwang zum Wechsel des Berufs besteht, bejahendenfalls ferner davon, ob triftige Gründe vorliegen, die für ihn den Vollzug des Berufswechsels einstweilen unzumutbar erscheinen ließen. Zur Beurteilung dieser Fragen reichen die vom LSG. getroffenen Feststellungen nicht aus. So ist insbesondere bisher nicht geklärt, welches Ausmaß die Kulturen der für den Kläger während der Blütezeit schädlichen Stauden haben und ob der Kläger bei dem Umfang seines Unternehmens und der Vielfalt der Ausübungsmöglichkeiten seines Berufes in der Lage ist, sich auf Arbeiten zu beschränken, bei denen er den ihn schädigenden Einwirkungen nicht ausgesetzt ist und die seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechen. Besteht nämlich eine solche Möglichkeit, so würde die von dem Kläger vorzunehmende Umstellung keinen Wechsel des Berufs, sondern nur einen Wechsel des Arbeitsplatzes bedeuten. Daß bei Annahme des objektiven Zwangs zum Berufswechsel ein triftiger Grund für den Kläger gegeben sei, von einem solchen Wechsel abzusehen, liegt nach den bisherigen tatsächlichen Feststellungen zwar nicht sehr nahe, läßt sich aber auch nicht ohne weiteres ausschließen. Auch insoweit bedarf es einer weiteren Erforschung des Sachverhalts. Das Bundessozialgericht (BSG.) konnte daher in der Sache selbst nicht entscheiden, es mußte vielmehr unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverweisen. Dieses wird sich hinsichtlich der Möglichkeit, durch organisatorische Veränderungen im Unternehmen des Klägers Abhilfe zu schaffen, insbesondere mit den Ausführungen im Widerspruchsbescheid vom 21. Januar 1955 auseinandersetzen und erforderlichenfalls einen geeigneten Sachverständigen zuziehen müssen.
Die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Zurückverweisung der Sache an das LSG. war auch insoweit erforderlich, als der Rechtsstreit die Übergangsrente nach § 5 der 3. BKVO betrifft. In dieser Hinsicht läßt das Urteil des LSG. nicht klar erkennen, welche Anträge der Kläger gestellt hat. Er hat insoweit vor dem SG. nur Anfechtungsklage erhoben, dagegen nicht den Erlaß eines neuen Verwaltungsaktes oder gar Leistung begehrt. In der mündlichen Verhandlung vom 28. Juni 1955 hat er "hinsichtlich der Übergangsrente keine Einwände erhoben oder Anträge gestellt". Darin könnte - was von Amts wegen zu beachten wäre (vgl. Baumbach-Lauterbach, Zivilprozeßordnung, 25. Aufl., § 271 Anm. 2 E) - eine teilweise Klagerücknahme liegen (vgl. RGZ. Bd. 75 S. 290; Bd. 152 S. 44). Der Einwilligung der Beklagten in die Klagerücknahme bedurfte es nach § 102 SGG (im Unterschied zu § 271 ZPO) nicht. Ob der Kläger in der Berufungsinstanz neue Anträge hinsichtlich der Übergangsrente gestellt und damit die Klage erweitert hat, ist zweifelhaft. Der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 6. Mai 1957 ist dies nicht ohne weiteres zu entnehmen, auch der Tatbestand des Berufungsurteils schafft hierüber keine völlige Klarheit. Das LSG. wird daher Gelegenheit nehmen müssen, insoweit eine Klärung herbeizuführen. Stellt der Kläger den Antrag, die Übergangsrente von Anfang an nach einem JAV. von 9.000,- DM zu berechnen, so wird das LSG. zunächst zu prüfen haben, ob nicht insoweit vor dem SG. die Klage zurückgenommen worden ist. Erst wenn die Klagerücknahme verneint oder die Wirksamkeit einer späteren Klageerweiterung bejaht wird, ist für die sachlich-rechtliche Prüfung Raum, ob die Übergangsrente nach einem JAV. von 2.700,- DM oder 9.000,- DM zu berechnen ist.
Zu dieser Frage kann das BSG. aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht Stellung nehmen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß das LSG. einerseits angenommen hat, der Versicherungsfall sei mangels Aufgabe des bisherigen Berufes nicht eingetreten, andererseits aber ausgeführt hat, der "Zeitpunkt des Unfalls" liege nach den Gutachten der Dermatologischen und Venerologischen Universitätsklinik und Poliklinik E vor dem 15. Januar 1954. Es wird zu prüfen sein, ob diese Ausführungen nicht widersprüchlich sind (vgl. auch Bauer-Engel-Koelsch-Krohn-Lauterbach, Dritte Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten vom 16. Dezember 1936, "Arbeit und Gesundheit", Heft 29, S. 100).
Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG. im abschließenden Urteil zu entscheiden haben.
Fundstellen