Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Gewalt in der Ehe. tätlicher Angriff. psychische Gewalt. Erforderlichkeit einer körperlichen Einwirkung. körperliche Gewalt. Versagung der Entschädigung wegen Mitverursachung. Trennungsstreit. Aufdrängen eines Gesprächs. Annahme einer psychischen Krankheit des Ehepartners. Versuch eines Gesprächs über dessen vermeintliche Krankheit. kommunikatives Bedrängen des Ehepartners in dessen Rückzugsraum. Unbilligkeit der Entschädigung bei Verbleib in gewalttätiger Beziehung. Berücksichtigung von psychischer Gewalt im zukünftigen Recht. weiterhin erforderliche Glaubhaftmachung eines konkreten schwerwiegenden Verhaltens
Leitsatz (amtlich)
1. Die Gewährung von Opferentschädigung ist wegen Unbilligkeit ausgeschlossen, wenn die wesentliche Ursache für eine aggressive Reaktion vom Opfer selbst gesetzt worden ist.
2. Unter Geltung des OEG verbleibt es dabei, dass es für einen rechtswidrigen tätlichen Angriff einer physischen Einwirkung auf das Opfer bedarf, unabhängig davon, ob sich die Rechtslage unter dem SGB XIV ändert.
3. Dass § 13 Abs 1 Nr 2 SGB XIV eine psychische Gewalttat als Schädigungstatbestand regelt, bedeutet nicht, dass eine behauptete Vernachlässigung in der Ehe allein entschädigungspflichtig wird.
4. Auch im SGB XIV müssen die Schädigungstatbestand wenigstens glaubhaft gemacht sein.
Orientierungssatz
Die Gewaltopferentschädigung kann wegen Unbilligkeit zu versagen sein, wenn das Opfer in einer Lebensgemeinschaft verbleibt, die mit einer dauernden Gefahrenlage verbunden ist, in der stets mit einer schweren Misshandlung gerechnet werden muss, da die Gefährdung vermeidbar gewesen ist (vgl BSG vom 3.10.1984 - 9a RVg 6/83 = BSGE 57, 168 = SozR 3800 § 2 Nr 5).
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 16. März 2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (OEG) aufgrund behaupteter psychischer Gewalt durch ihren Ex-Mann während der Ehe.
Sie ist 1961 in C geboren und hat dort von 1968 bis 1978 die Schule besucht, die sie mit der mittleren Reife abschloss. Nach einer Ausbildung zur Grundschullehrerin an der Fachhochschule war sie an einer Körperbehindertenschule tätig, zuletzt seit 1998 in D (vgl. Anamnese H, Gutachten im SB-Verfahren, Blatt 79 VerwAkte). Sie hat eine 1983 geborene Tochter. Bei ihr ist seit dem 18. September 2015 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt.
Am 16. Mai 2019 beantragte sie bei dem Regierungspräsidium S die Gewährung von Leistungen nach dem OEG, welches den Antrag an das Landratsamt B (LRA) weiterleitete. Sie machte geltend, dass im Januar 2017 die Situation zu Hause völlig eskaliert sei. Sie habe ihren Ehemann an diesem Tag wieder damit konfrontiert, dass er psychisch sehr krank sei. Daraufhin sei er immer aggressiver und wütender geworden, habe sie angeschrien, dass er gesund sei und habe sie mit böser scharfer Stimme beschimpft. Er sei auf sie losgegangen, sodass sie zwischen Schrank und Sessel im Vorraum des Schlafzimmers im Obergeschoß gefallen und zu Boden gestürzt sei. Sie habe sich wieder hochgerappelt, wie erstarrt dagestanden und nicht fassen können, was passiert sei. Er sei wieder auf sie losgegangen und habe sie wieder zu Boden geschmissen. Er habe dabei wie von Sinnen geschrien und sie beschuldigt. Als sie wieder auf die Füße gekommen sei, sei er wieder auf sie zugekommen und habe sie attackiert, dass sie in Richtung Badezimmer auf den Badboden gefallen sei. Sie habe nichts sagen, sich nicht wehren können und sei wie erstarrt gewesen. Sie habe sich wiederum hochgerappelt, sei die Treppe hinunter in den Keller gegangen. Dort sei sie zusammengebrochen und irgendwann habe ihre Tochter angerufen, die ihr gesagt habe, dass sie „den Mann“ anzeigen müsse.
Neben diesem schlimmsten körperlichen Angriff habe sie ein 20-jähriges Martyrium durch ihren Ehemann erlebt. Dieses sei gekennzeichnet gewesen durch Erniedrigungen, Abwertungen, Beschimpfungen, Aggressivität und Bestrafung. Seine ständigen Schuldzuweisungen hätten zunehmend ihre realistische Wahrnehmung und ihr Selbstbild zerstört. Seine Veränderung habe an dem Tag begonnen, als sie zu ihm gezogen sei. Aus einem charmanten, aufmerksamen Menschen sei ein gefühlskaltes Monster geworden. Lange habe er sein positives Bild noch aufrechterhalten, wenn sie draußen unter anderen Menschen gewesen seien. Zunehmend sei aber auch das soziale Umfeld von ihm irritiert worden. Zuhause sei er kalt und berechnend gewesen, habe Macht und Kontrolle ausgeübt. Er habe sie beherrscht, sie habe versucht, ihn zu retten und habe immer mehr das Gefühl verloren, was normal sei. Nach Aussage seines behandelnden Arztes habe er pathologische Ängste und Zwänge, sie halte ihn für einen Psychopathen und Soziopathen, der selber glaube, gesund und normal z...