Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. Leistungsversagung. Mitverursachung. Ansprechen einer Gruppe Jugendlicher wegen zu lauter Musik. Alkohol- und Drogenkonsum. verletzt am Boden liegendes Ehepaar. Provokation der Gruppe durch Ansprechen. vorhergehende Beleidigung der Ehefrau durch Jugendliche als "fette Sau". Nichtbefolgung der Anweisung der Gruppe wegzugehen. Nichtentfernung aus konfliktbeladener Situation. Weichen vor dem Unrecht. Unbilligkeit der Gewaltopferentschädigung. Verweis auf die Inanspruchnahme polizeilicher Hilfe. erforderliche Übereinstimmung von Opfer- und Zeugenaussagen. Weglaufen der Gruppe vor bzw nach Anruf der Polizei. Handverletzung nach Sturz im Rahmen einer tätlichen Auseinandersetzung. Erwägung der Möglichkeit der Notwehr oder eines vorsatzlosen Handelns der Gruppenmitglieder. keine Überzeugung des Gerichts von einem vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff gegenüber dem Ehepaar
Leitsatz (amtlich)
Leistungen nach dem OEG sind wegen einer leichtfertigen Selbstgefährdung nach § 2 Abs 1 S 1 Alt 1 OEG auch dann zu versagen, wenn zwar für ein Ansprechen der Täter aufgrund einer vorhergegangen Beleidigung ein rechtfertigender Grund besteht, die Täter aber in der Überzahl sind und deren Hemmschwelle aufgrund des Konsums von Alkohol und Drogen erkennbar herabgesetzt ist. In einer solchen Situation hat das Opfer polizeiliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Orientierungssatz
1. Selbst wenn jemand auf dem Gehweg aus einer Gruppe Jugendlicher heraus als "fette Sau" beleidigt wird, besteht kein Grund für ein Ansprechen der Gruppe iS des Notwehrrechts (§ 32 StGB).
2. Können aus dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen vermeintliche Täter später keine Erkenntnisse für das sozialgerichtliche Opferentschädigungsverfahren übernommen werden (hier: weil die Beschuldigten nach den polizeilichen Ermittlungen ihre Anwesenheit am Tatort zum Zeitpunkt der tätlichen Auseinandersetzung bestritten haben und das Ermittlungsverfahren mangels Beweisen eingestellt worden ist), kommt es insbesondere auf die Übereinstimmung der Aussagen des möglichen Opfers und vorhandener Zeugen an (hier: ua Unstimmigkeiten zwischen Aussage von Opfer und Zeugen, ob die Jugendlichen vor oder nach dem Anruf bei der Polizei weggelaufen sind).
3. Wer auf dem Gehweg eine Gruppe von 20 bis 30 Jugendlichen wegen zu lauter Musik anspricht und der Aufforderung der Gruppe, zu gehen, nicht Folge leistet, kann durchaus auch als Verursacher einer Aggression angesehen werden, sodass sich das Gericht ggf nicht die notwendige Überzeugung bilden kann, dass körperliche Verletzungen von später am Boden liegenden (sich zuvor beschwerenden) Personen nach einer tätlichen Auseinandersetzung auch eindeutig die Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 OEG gewesen sind.
4. Eine Handverletzung (hier: distale Radiusfraktur) kann insoweit auch infolge der möglichen Notwehrreaktion eines Gruppenmitglieds oder durch ein lediglich vorsatzloses Beiseiteschieben mit anschließendem Sturz verursacht worden sein.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 28. März 2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung von Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung der Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) i. V. m. dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz - BVG), insbesondere eine Beschädigtengrundrente, aufgrund einer körperlichen Auseinandersetzungen mit einer Gruppe Jugendlicher am 30. April 2019.
Sie ist 1989 geboren, verheiratet und Mutter von drei Kindern, von denen zwei in Pflegefamilien leben. Ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 ist festgestellt (vgl. Angaben der Klägerin im Verwaltungsverfahren).
Ihre Krankenkasse (AOK) legte dem Landratsamt S1 (LRA) am 4. Juni 2019 den von der Klägerin ausgefüllten Unfallfragebogen vom 13. Mai 2019 vor. Es könne möglicherweise ein entschädigungspflichtiger Tatbestand i. S. d. OEG vorliegen. In diesem Fragebogen gab sie an, am 30. April 2019 gegen 22 Uhr zusammen mit ihrem Ehemann von mehreren Jugendlichen angegriffen worden zu sein. Sie habe eine Radiusfraktur erlitten, deren Behandlung noch nicht abgeschlossen sei.
Am 18. Juni und am 2. August 2019 stellte die Klägerin beim LRA Anträge auf Leistungen nach dem OEG. In dem ihr daraufhin übersandten Formantrag führte sie aus, am 30. April 2019 um 22 Uhr in S1 im Park in der Nähe des Kauflands zusammen mit ihrem Ehemann von einer Gruppe von 20 Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen angegriffen worden zu sein. Zuerst habe sich der Angriff gegen ihren Ehemann gerichtet, als sie dazwischen gegangen sei, wäre sie getreten, geschlagen und auf den Boden geworfen worden. Teilweise leide sie unter Erinnerungslücken hinsichtlich der Tat. Strafanzeige habe sie am 30. April 2019 erstattet. Am Arm habe sie einen Bruch erl...