Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die Glaubhaftmachung des vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs zur Bewilligung von Opferentschädigung
Orientierungssatz
1. Bei der Glaubhaftmachung i. S. des § 15 S. 1 KOVVfG zur Bewilligung von Opferentschädigung nach § 1 Abs. 1 OEG reicht die gute Möglichkeit des vom Opfer geschilderten Vorgangs aus. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist.
2. Die Anwendung dieses Maßstabs setzt voraus, dass der Antragsteller Angaben zu den entscheidungserheblichen Fragen aus eigenem Wissen machen kann und widerspruchsfrei vorträgt (LSG Stuttgart, Urteil vom 21. 4. 2015, L 6 VG 2096/13).
3. Die Bewilligung von Opferentschädigung setzt nach § 10a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 OEG Bedürftigkeit des Opfers voraus.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 07.05.2012 geändert.
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 20.11.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.09.2004 verurteilt, der Klägerin auf ihren Antrag vom 28.01.2003 dem Grunde nach Grundrentenleistungen nach dem OEG i.V.m. dem BVG nach einem GdS von 50 nach weiterer Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen zu zwei Dritteln.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Die im Jahr 1961 geborene Klägerin macht geltend, dass ihr damaliger Patenonkel, der Zeuge L, sie in den Jahren 1973 bis 1975 sexuell missbraucht habe. Als Beleg hierfür bezieht sie sich auf ein Tagebuch, datiert aus dem Jahr 1977, in dem sie schilderte, dass der Zeuge L wegen sexuellen Missbrauchs in 20 Fällen verurteilt worden sei. Ein abgesetztes Urteil existiert nicht mehr, nachdem die Verfahrensakte (augenscheinlich) ausgesondert und vernichtet wurde.
Die Klägerin absolvierte eine Ausbildung zur Friseurin, war in diesem Beruf tätig und erlangte auf dem zweiten Bildungsweg die Fachoberschulreife. In der Zeit von ca. 1986 bis 1993 konsumierte die Klägerin Drogen (u.a. Cannabis und LSD). Im Zusammenhang mit der Beendigung ihres Drogenkonsums orientierte sich die Klägerin beruflich um und war als Teamleiterin sowie in der Personalplanung in verschiedenen Unternehmen tätig. Seit 2002 bezieht die Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung und übte nach Zuerkennung der Erwerbsminderungsrente zeitweilig Nebentätigkeiten in geringfügigem Umfang aus (z.B. Hundeschule, Aushilfe an einer Tankstelle).
Im Jahr 2003 stellte die Klägerin bei dem damals zuständigen Versorgungsamt E einen Opferentschädigungsantrag. Nach Beiziehung medizinischer Unterlagen und Einholung eines psychiatrischen Gutachtens der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. C, die der Auffassung war, es lägen bei der Klägerin sowohl schädigungsunabhängige als auch schädigungsabhängige Erkrankungen vor, die durch den Missbrauch verursachten Schädigungsfolgen seien jedoch lediglich mit einem GdS von 10 zu bewerten, lehnte das Versorgungsamt den Antrag mit Bescheid vom 20.11.2003 ab. Den Widerspruch wies die Bezirksregierung N zurück.
Auf die hiergegen bei dem Sozialgericht (SG) Duisburg erhobene Klage hat das SG zunächst ein Gutachten des Psychiaters Dr. D vom 20.02.2006 nebst ergänzender Stellungnahmen eingeholt. Dieser hat die Auffassung vertreten, die Klägerin erfülle die Kriterien einer chronischen posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die dem Schweregrad nach als leichtes Trauma zu bewerten sei. Darüber hinaus bestehe ein Anhalt für eine schwache Depression. Aktuell könne nicht von dissoziativen Symptomen ausgegangen werden. Darüber hinaus erfülle die Klägerin die Kriterien im Bereich der selbstunsicheren und dependenten Persönlichkeitsstörung. Unter Berücksichtigung der biographischen Anamnese sei am ehesten davon auszugehen, dass es sich um eine kombinierte strukturelle Störung handele, die zur Selbstunsicherheit und Abhängigkeit neige, wobei auch emotional instabile Züge vorlägen. Insgesamt liege eine Schädigungsfolge mit einem GdS von 20 vor.
Auf die seitens der Klägerin geübte Kritik hat das SG ein weiteres Sachverständigengutachten der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. A1 veranlasst. In ihrem nach ambulanter Untersuchung der Klägerin erstatteten Gutachten vom 15.11.2008/06.11.2009 hat die Sachverständige zusammenfassend ausgeführt, bei der Klägerin bestehe eine schwere Störung (Chronische PTBS, Angststörung, weitreichende Persönlichkeitsstörung) mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Die schädigungsbedingte MdE betrage für die chronische PTBS 70, für die Angststörung mit depressiven Zügen 50, für die andauernde Persönlichkeitsänderung mit selbstunsicheren, negativistischen, paranoiden und Borderline-Persönlichkeitszügen 70. Die Gesamtheit aller Schädigungsfolgen (Gesamt-MdE) seit Dezember 2003 im allgemeinen...