Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen RF. Ermäßigung des Rundfunkbeitrags. Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen. ausreichende Mobilität bei Möglichkeit von selbstständigen Arztbesuchen. unzureichende Zahnversorgung. Furcht vor starrenden Blicken anderer. Harninkontinenz. Zumutbarkeit von Windelhosen
Leitsatz (amtlich)
Kann der behinderte Mensch seine behandelnden Ärzte noch selbst aufsuchen und sich einer Begutachtung an einem fremden Ort unterziehen, liegen die Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" regelmäßig nicht vor.
Orientierungssatz
1. Eine unzureichende Zahnversorgung (hier: Vorhandensein von nur noch zwei Zähnen und aktuell nicht einsetzbare Zahnprothese) stellt keinen objektivierbaren Umstand dar, der es unmöglich macht, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen.
2. Es kann dem schwerbehinderten Menschen zugemutet werden, für den begrenzten Zeitraum des Besuchs einer öffentlichen Veranstaltung, zeitweise Windelhosen als Hilfsmittel zu nutzen (vgl BSG vom 17.8.2010 - B 9 SB 32/10 und vom 12.2.1997 - 9 RVs 2/96 = SozR 3-3870 § 4 Nr 17).
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin das Merkzeichen "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) bzw. ab dem 1. Januar 2013 die Ermäßigung von der Rundfunkbeitragspflicht zuzuerkennen ist.
Auf einen Erstfeststellungantrag der Klägerin vom 31. Januar 1997 stellte der Beklagte wegen einer Epilepsie, eine Herzleistungsminderung, einer Wirbelsäulenbeeinträchtigung, eines Diabetes mellitus, einer Gicht sowie einer seelischen Gesundheitsstörung einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie die Merkzeichen "G" (Erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) fest.
Auf einen Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 30. September 1998 zur Erlangung des Merkzeichens "RF" nahm der Beklagte nach medizinischen Ermittlungen, die statt einer Epilepsie ein psychogenes Anfallsleiden bestätigt hatten, eine Herabsetzung des GdB auf 50 sowie die Entziehung der anerkannten Merkzeichen vor. Die Voraussetzungen des der Klägerin begehrten Merkzeichens "RF" seien nicht gegeben. Der dagegen gerichtete Widerspruch der Klägerin wurde vom Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 2000 zurückgewiesen. Die anschließende Klage vor dem Sozialgericht Halle (S 1 SB 63/00) war teilweise erfolgreich. Unter Aufhebung der Bescheide wurde zu Gunsten der Klägerin ein Gesamt-GdB von 60 festgestellt. Auf einen weiteren Neufeststellungsantrag vom 20. August 2001, den die Klägerin mit einer aufgetretenen Schwerhörigkeit/Taubheit begründet hatte, hob der Beklagte mit Bescheid vom 30. November 2001 die entgegenstehenden Bescheide auf, stellte einen Gesamt-GdB von 80 sowie die Merkzeichen "G" und "B" fest. Mit weiterem Bescheid vom 6. Dezember 2001 hob der Beklagte diesen Bescheid wieder auf und stellte mit Wirkung ab dem 20. August 2001 einen GdB von 90 fest.
Am 21 Januar 2002 beantragte die Klägerin erneut die Feststellung des Merkzeichens "RF" und begründete dies mit einem Herzinfarkt sowie einer Gesichtsfeldeinschränkung. Nach medizinischen Ermittlungen des Beklagten wurde dieser Antrag abgelehnt (Bescheid vom 6. Juni 2003). Ein weiter Neufeststellungsantrages vom 25. April 2005, der wiederum auf das Merkzeichen "RF" gerichtet war, wurde vom Beklagten abgelehnt (Bescheid vom 22. November 2005). Ein erneuter Neufeststellungsantrag vom 27. Januar 2006 blieb ebenfalls erfolglos (Bescheid vom 15. Juni 2006). Der dagegen gerichtete Widerspruch der Klägerin wurde vom Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 4. Dezember 2006 zurückgewiesen.
Am 16. November 2009 beantragte die Klägerin abermals die Feststellung des Merkzeichens "RF" und gab zur Begründung an: Sie habe starke Schmerzen und könne nur noch wenige Schritte gehen. Seit Jahren nehme sie an öffentlichen Veranstaltungen sowie an Familienfeierlichkeiten nicht mehr teil. Sie könne den Urin kaum halten und benötige jeweils in unmittelbarer Nähe ein WC. Bei Anwesenheit mehrerer Personen bekomme sie Angstzustände. Der Beklagte holte einen Befundbericht von Dipl.-Med. H. vom 17. Januar 2010 ein, der angab: Die Klägerin leide nach einem Herzinfarkt an einer Herzinsuffizienz Stadium IV NYHA. Bereits nach 3 bis 4 Schritten trete bei ihr eine Belastungsluftnot auf. Die Klägerin verlasse dabei ihr Haus nicht mehr. Daneben bestünde ein ausgeprägtes depressives Syndrom, ein Diabetes mellitus sowie eine diabetische Retinopathie. Nach Angaben der Klägerin bestehe eine Harninkontinenz, die den Gebrauch von Vorlagen erfordere. Diese Erkrankung sei auch der Grund dafür, warum sie sich sozial zurückgezogen habe. Die Versorgungsärztin Dr. K. hielt einen Gesamt-GdB von 70 für angemessen, jedoch die Voraussetzungen des Merkzeichens "RF" für nicht gegeben. Mit Bescheid vom 11. Juni 2010 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Hiergegen richtete sich der Wi...