Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenversicherungspflichtiges Arbeits-/Beschäftigungsverhältnis. Ghettoarbeit. eigener Willensentschluss. zusätzliche Nahrungsmittel. deutscher Sprach- und Kulturkreis (dSK). verfolgungsbedingte Ersatzzeit. Zahlbarmachung einer Ghettorente
Leitsatz (amtlich)
1. Aus den historischen Tatsachen lässt sich für das so genannte Generalgouvernement keine Vermutung dafür ableiten, dass innerhalb und außerhalb eines Ghettos ausgeführte Reinigungstätigkeiten unter Zwang zustande gekommen sind. Eine Ghetto-Beschäftigung aus einem Willensentschluss kann nach den Umständen des Einzelfalles dann vorliegen, wenn die Klägerin sich auch gegen die Arbeitsaufnahme hätte entscheiden können.
2. Bei der Auslegung des Entgeltbegriffs iS des ZRBG ist auf die tatsächlichen Verhältnisse im Ghetto abzustellen. Das Entgelt kann auch in zusätzlichen Nahrungsmitteln zur beliebigen Verfügung bestehen.
3. Beiträge für Zeiten der Beschäftigung in einem Ghetto gelten auch dann als gezahlt, wenn die Verfolgten dem deutschen Sprach- und Kulturkreis nicht angehören (Entgegen LSG Essen vom 13.1.2006 - L 4 RJ 113/04).
Orientierungssatz
1. Die Abgrenzung von "freien" Beschäftigungsverhältnissen gegenüber Zwangsarbeit innerhalb und außerhalb von Ghettos ist jeweils im Einzelfall vorzunehmen und nicht an starren Einzelkriterien festzumachen, sondern anhand des Gesamtbildes zu ermitteln.
2. Zur Anrechnung von verfolgungsbedingten Ersatzzeiten nach § 250 Abs 1 Nr 4 SGB 6 neben einer Ghettobeitragszeit.
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 13.08.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 03.02.2004 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Regelaltersrente unter Berücksichtigung einer Ghettobeitragszeit von insgesamt 15 Kalendermonaten innerhalb des Zeitraums von April 1941 bis 15.09.1942 im Ghetto Czestochowa sowie von verfolgungsbedingten Ersatzzeiten, mit denen die Wartezeit erfüllt wird, nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
3. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligen ist die Gewährung von Regelaltersrente unter Anerkennung von Beschäftigungszeiten im Ghetto Czestochowa, im sog. Generalgouvernement, streitig.
Die am ...1912 in C. (T.) in Polen geborene Klägerin hat in K. deutsche Philologie studiert und war bis 1939 in C. als Lehrerin tätig. Als Jüdin wurde die Klägerin Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung. Sie musste sich im Ghetto Czestochowa im sog. damaligen Generalgouvernement und im Zwangsarbeitslager HASAG in Czestochowa aufhalten. Nach der Befreiung lebte die Klägerin bis zu ihrer Ausreise nach Israel im Jahre 1948 im DP-Lager Zeilsheim. Seit 1958 hat die Klägerin ihren Wohnsitz in den USA. Sie besitzt die dortige Staatsbürgerschaft.
Die Klägerin ist als Verfolgte des Nationalsozialismus von der Wiedergutmachungsstelle des Regierungspräsidium Darmstadt - Aktenzeichen ...- anerkannt. Sie hat Entschädigungsleistungen für den erlittenen Freiheitsschaden erhalten und bezieht eine Rente wegen verfolgungsbedingtem Gesundheitsschaden.
Im Rahmen des Entschädigungsverfahrens nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) hat die Klägerin in einer eidesstattlichen Versicherung im Januar 1962 erklärt, sie habe durchgehend, seit Ende 1939 bis zur Befreiung im Januar 1945 in Tschenstochau den Judenstern getragen und Zwangsarbeiten für die Deutschen geleistet.
Im Antragsformular zur Geltendmachung von Wiedergutmachung wegen Schaden an Freiheit hat die Klägerin angegeben, von Januar 1940 bis September 1942 im Ghetto und von September 1942 bis Januar 1945 im Zwangsarbeitslager HASAG in Czestochowa gewesen zu sein.
Im Verfahren vor der 4. Entschädigungskammer des Landgerichts Darmstadt hat der damalige Bevollmächtigte der Klägerin zum Nachweis für Kennzeichnungspflicht und geleistete Zwangsarbeit ab September 1939 eidesstattliche Versicherungen der Zeuginnen C1 G. und M. K1 von Mai 1956 vorgelegt. Darin heißt es, die Klägerin und die Zeuginnen hätten nach dem Einmarsch der Deutschen im September 1939 die weiße Armbinde mit blauem Stern anlegen und “alle möglichen Schwarzarbeiten„ zwangsweise ausführen müssen. In der Erklärung der Frau G. heißt es wörtlich: “Wir mussten uns früh morgens zum Appell auf der Strasse aufstellen und wurden dann in verschiedene Arbeitsgruppen eingeteilt. (...) Wir wurden von Militär zum Arbeitsplatz geführt und wieder zurück.„ Frau M. K1 hat erklärt: "Wir wurden jeden Morgen zur Arbeit eingeteilt und dann Militärisch an die verschiedenen Arbeitsstellen abgeführt. (...) Wir sind dann auch zusammen in das Ghetto Czenstochau gekommen (...).
Nach Vorlage dieser Zeuginnenerklärungen wurde im Juli 1956 für die Zeit von Januar 1940 bis 23.4.1941 ein Endvergleich für Freiheitsentziehung bzw. Freiheitsbeschränkung geschlossen, nachdem bereits vorher für die Zeit vom 23.4.1941 bis 13.1.1945 ein Teilvergleich geschlossen worden war.
In einem ärztlichen Gutachten zum Antrag der Klägerin auf Entschädig...