Prof. Dr. Stefan Müller, Lina Warnke
2.3.1.1 Regelungsinhalt
Rz. 61
Bei der Bewertung der im Jahresabschluss ausgewiesenen VG und Schulden ist als logische Konsequenz einer periodengerechten Rechnungslegung auf die Verhältnisse am Abschlussstichtag (s. zum Abschlussstichtag § 242 Rz 8 ff.) abzustellen. Über die Kodifizierung als GoB in § 252 Abs. 1 Nr. 3 HGB hinaus findet das Stichtagsprinzip auch in zahlreichen weiteren Normen des Handelsrechts Erwähnung. So ist etwa gem. § 253 Abs. 3 Satz 5 HGB bei VG des AV bei voraussichtlich dauernder Wertminderung der Wert anzusetzen, der ihnen am Abschlussstichtag beizulegen ist. Gleiches gilt in Bezug auf den Bemessungszeitpunkt mit § 253 Abs. 4 Satz 1 HGB auch für VG des UV. Es ergibt sich zudem aus dem in § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB implementierten Vorsichtsprinzip (Rz 97) und letztlich dem Imparitätsprinzip (Rz 102). Die voraussichtliche Dauer von Wertminderungen zum Kriterium einer außerplanmäßigen Abschreibung, wie beim AV (§ 253 Abs. 3 Satz 3 HGB), kann nur bedingt als Ausnahme vom Stichtagsprinzip gesehen werden, da nicht die am Abschlussstichtag geltenden Verhältnisse mit zukunftsorientierten Einschätzungen überformt werden müssen, sondern die Einschätzung zum Stichtag als Tatbestandsmerkmal zu erfolgen hat.
Rz. 62
Da es auf die Verhältnisse und nicht den Wissensstand am Abschlussstichtag ankommt, sind über die ohnehin selbstverständliche Berücksichtigung aller vor dem Abschlussstichtag entstandenen und zu diesem Zeitpunkt bereits bekanntgewordenen Ereignisse hinaus wertaufhellende Tatsachen bei der Erstellung des Jahresabschlusses bzw. hier konkret der Bewertung von VG und Schulden zu berücksichtigen (IDW PS 203.9 n. F.).
Entsprechend sind Ereignisse, die vor dem Bilanzstichtag verursacht, aber erst bis zum Aufstellungsstichtag bekanntgeworden sind (Rz 63 ff.), zu beachten. Tatsachen, die im Zeitraum während dem Abschluss- und dem Aufstellungsstichtag bekannt werden, jedoch erst nach dem Abschlussstichtag verursacht wurden, sog. wertbegründende Tatsachen, sind nicht zu berücksichtigen (Rz 63 ff.). Die mitunter vertretene Auffassung, dass es richtig erscheint, auch negative wertbegründende Ereignisse mit wesentlichen Auswirkungen auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage eines Unt zu berücksichtigen, ist eindeutig abzulehnen. Das Vorsichtsprinzip (Rz 97) ist keinesfalls als Durchbrechung des Stichtagsprinzips (Rz 61) zu interpretieren.
2.3.1.2 Wertaufhellende und wertbegründende Tatsachen
Rz. 63
Das Wertaufhellungsprinzip und die entsprechende Unterscheidung zwischen wertaufhellenden und wertbegründenden Tatsachen folgt aus der Systematik der Trennung von Abschlussstichtag (s. zum Abschlussstichtag § 242 Rz 8 ff.) und dem Stichtag der Bilanzaufstellung (§ 243 Rz 33, § 264 Rz 43) i. V. m. § 252 Abs. 1 Nr. 3 HGB sowie § 252 Nr. 4 Hs. 1 HGB. Wenngleich es bei kleineren Ges. in Einzelfällen zu einer zeitlichen Deckung der beiden Zeitpunkte kommen kann, weichen Abschlussstichtag und Aufstellungstag i. d. R. voneinander ab. Basierend auf dieser (zumindest möglichen) Trennung und bereits aus der Vorgabe des § 252 Abs. 1 Nr. 3 HGB zur Abstellung auf die Verhältnisse am Abschlussstichtag folgt die Pflicht zur etwaigen Berücksichtigung wertaufhellender Ereignisse, die zwischen diesen beiden Zeitpunkten bekannt geworden sind, jedoch bereits vor dem Bilanzstichtag verursacht wurden. Die gem. § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB vorgeschriebene Berücksichtigung von vorhersehbaren Risiken und Verlusten, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, selbst wenn sie erst zwischen dem Abschlussstichtag und dem Tag der Aufstellung bekannt geworden sind (Imparitätsprinzip), konkretisiert/untermauert die Pflicht zur Berücksichtigung wertaufhellender Tatsachen. Für die Gewinnrealisierung gilt mit § 252 Nr. 4 Hs. 2 HGB das Realisationsprinzip. Allerdings hat der BFH unter Einschränkung des Realisationsprinzips entschieden, dass die Reduktion von Verlustrisiken oder deren Wegfall durchaus zu berücksichtigen sind. Auch im IDW PS 203.9 n. F. und im Schrifttum wird die Auffassung vertreten, dass nicht nur Risiken und Verluste, sondern auch positive Ereignisse als wertaufhellende Tatsachen zu berücksichtigen sind. Dem ist zuzustimmen.
Da der Unterschied zwischen der Verringerung von Verlustrisiken und Gewinnen in letzter Instanz gering ist, lässt sich bereits erkennen, dass die Grenze...