Leitsatz (amtlich)
Bei Anwendung des § 4 Ziff. 15 b UStG wird der Gleichheitssatz nicht dadurch verletzt, daß einerseits die Umsätze aus ambulanter Behandlung in einer vom behandelnden Arzt als Eigentümer betriebenen Klinik von der Vergünstigung ausgeschlossen werden (Urteil des BFH V 148/56 U vom 5. Dezember 1956, BFH 64, 109, 2. Rechtssatz; BStBl III 1957, 41), anderseits aber Steuerfreiheit gewährt wird, wenn die übrigen von der Vorschrift erfaßten Krankenanstalten Einnahmen aus ihrer Ambulanz erzielen.
Normenkette
UStG § 4 Abs. 15/b; UStDB § 42 Abs. 1, 4; UStG § 4 Abs. 16/b; GG Art. 3 Abs. 1; StAnpG § 1
Streitjahr(e)
1956
Tatbestand
Der Revisionskläger und Steuerpflichtige (Stpfl.) ist Facharzt für Chirurgie und Inhaber einer als Krankenanstalt im Sinne des § 4 Ziff. 15 b UStG anerkannten, gemäß § 30 der Gewerbeordnung (GewO) konzessionierten Privatklinik. Dort behandelt er auch Privatpatienten ambulant.
Streitig ist für den Veranlagungszeitraum 1956, ob die in der eigenen Klinik durchgeführte ambulante Behandlung von Privatpatienten unter die Steuerfreiheit nach § 4 Ziff. 15 b UStG fällt. Ferner bestehe Streit darüber, ob die rechtskräftige Umsatzsteuerfestsetzung 1956 berichtigt werden durfte.
Das Finanzamt (FA) hatte im Anschluß an eine im Jahre 1955 durchgeführte Betriebsprüfung gegenüber dem Stpfl. vorbehaltlich anderweitiger Entscheidungen durch die Rechtsmittelbehörden die Auffassung vertreten, die aus ambulanter Behandlung in der Klinik erzielten Umsätze fielen unter § 4 Ziff. 15 b UStG. Dementsprechend hatte das FA die Veranlagungen der Jahre 1952 bis 1955 durchgeführt.
In der Steuererklärung 1956 beanspruchte der Stpfl. für die aus der ambulanten Behandlung erzielten Umsätze wie in den Vorjahren Steuerfreiheit. Das FA setzte die Umsatzsteuer für 1956 nach der Erklärung auf ... DM fest.
Im Jahre 1961 fand bei dem Stpfl. wiederum eine Betriebsprüfung statt. Dabei wurde für 1956 festgestellt, daß der Stpfl. Beträge von 10.000 DM und 245 DM nicht versteuert hatte. Auf Grund dieser neuen Tatsachen erließ das FA einen Berichtigungsbescheid gemäß § 222 AO. Es änderte dabei die bisher vertretene Auffassung zur Frage der ambulanten Behandlung und schloß sich hierin dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) V 148/56 U vom 5. Dezember 1956 (BFH 64, 109; BStBl III 1957, 41) an. In diesem Urteil hat der Senat grundsätzlich entschieden, daß ein Arzt, der in seiner eigenen Krankenanstalt aus der stationären Behandlung von Patienten Umsätze erzielt, auf die § 4 Ziff. 15 b UStG anzuwenden ist, hinsichtlich der Umsätze aus den der stationären Behandlung vorangehenden oder nachfolgenden ambulanten Behandlungen der Umsatzsteuer unterliegt.
Nach erfolgloser Sprungberufung rügt der Stpfl. mit der Rb., die nunmehr als Revision zu behandeln ist (ß 184 Abs. 2 FGO), unrichtige Rechtsanwendung. Er führt dazu unter Bezugnahme auf sein früheres Vorbringen aus: Die Versagung der Steuerfreiheit für die ambulante Behandlung der Privatpatienten sei entgegen der in den o. a. BFH-Urteil vertretenen Auffassung weder mit dem Wortlaut des § 4 Ziff. 15 b UStG noch mit dessen Entstehungsgeschichte zu vereinbaren. Die vom BFH und von der Vorinstanz vertretene Auffassung verstoße auch gegen den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, weil Krankenanstalten, bei denen der Inhaber identisch sei mit dem Arzt, ungünstiger behandelt würden als solche, bei denen Inhaber und ärztlicher Leiter der Krankenanstalt nicht die gleiche Person sei. Im übrigen verstoße eine rückwirkende Anwendung des o. a. BFH-Urteile auf den Veranlagungszeitraum 1956 gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. Sie sei auch nach § 222 Abs. 2 AO unzulässig, wenngleich der BFH die Streitfrage seinerzeit erstmals zu beurteilen gehabt habe.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Mit Recht hat das Finanzgericht (FG) eine Berichtigung gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO der rechtskräftig festgesetzten Umsatzsteuer 1956 für zulässig erachtet. Durch die Betriebsprüfung im Jahre 1961 ist dem FA erstmals bekanntgeworden, daß der Stpfl. Entgelte von 10.245 DM nicht der Umsatzsteuer unterworfen hatte. Diese Tatsachen sind auch von einigem Gewicht im Sinne des BFH-Urteils V 180/59 U vom 8. Februar 1962 (BFH 74, 610; BStBl III 1962, 225) ...
Bei Feststellung neuer Tatsachen von einigem Gewicht im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO ist das FA berechtigt, über den Berichtigungsanlaß hinaus den ganzen rechtskräftig abgeschlossenen Steuerfall neu aufzurollen (vgl. BFH-Urteil I 95, 110/60 S vom 5. Juni 1962, BFH 76, 282; BStBl III 1963, 100, und Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - 2 BvR 91, 271/64 vom 4. November 1965, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1966 S. 143). Dabei kann das FA von seiner bisher vertretenen rechtlichen Beurteilung abweichen, es sei denn, daß es an diese nach Treu und Glauben gebunden ist. Eine solche Bindung ist aber hier nicht eingetreten.
Das FA hat zwar nach Rückfrage bei der Oberfinanzdirektion (OFD) dem Stpfl. im Jahre 1955 mitgeteilt, daß es die aus der ambulanten Behandlung erzielten Umsätze als steuerfrei ansehe. Es hat sich aber dabei eine Änderung der rechtlichen Beurteilung für künftige Veranlagungen ausdrücklich vorbehalten, falls die Streitfrage von den Rechtsmittelbehörden anders entschieden werden sollte. Im Zeitpunkt der Berichtigung und Wiederaufrollung der Veranlagung 1956 im Jahre 1961 lag zu der Streitfrage das Urteil des BFH V 148/56 U, a. a. O., vor, so daß das FA nunmehr seine frühere unzutreffende Rechtsauffassung entsprechend seinem Vorbehalt aufgeben konnte und im Interesse der Steuergerechtigkeit auch aufgeben mußte. Im übrigen könnte sich der Stpfl. auf den Grundsatz von Treu und Glauben auch deshalb nicht berufen, weil das o. a. Urteil, also eine "anderweitige Entscheidung durch die Rechtsmittelbehörden" im Sinne des Vorbehalts, im Jahre 1957 veröffentlicht worden war und der Stpfl. die Steuererklärung 1956 erst im Jahre 1958 abgegeben hat. Bei dieser Sachlage durfte das FA davon ausgehen, daß der von einem Steuerkundigen beratene Stpfl. in seinen Steuererklärungen für 1956 und später die höchstrichterliche Entscheidung zu der Streitfrage berücksichtigt hat.
Demgegenüber kann der Stpfl. nicht geltend machen, das FA habe für die Veranlagung 1956 das BFH-Urteil V 148/56 U (a. a. O.) auch nach § 222 Abs. 2 AO nicht heranziehen dürfen. Denn die Grundlage der Berichtigungsveranlagung war nicht eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung, sondern das Bekanntwerden neuer Tatsachen. Nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung konnte das FA bei der gebotenen neuerlichen Steuerfestsetzung nicht mehr an einer inzwischen als fehlerhaft erkannten Gesetzesauslegung festhalten; es mußte vielmehr die Rechtsprechung des BFH berücksichtigen.
Auch die weiteren Einwendungen des Stpfl. können sein Revisionsbegehren nicht rechtfertigen.
Ein Arzt, der Inhaber einer Krankenanstalt ist und Patienten ambulant behandelt, übt eine zweifache Tätigkeit aus, nämlich die eines freiberuflichen Arztes und die eines Krankenhausinhabers. Nur für diese Tätigkeit ist die Steuerfreiheit nach § 4 Ziff. 15 b UStG in Verbindung mit § 42 Abs. 1 und 4 der Durchführungsbestimmungen zum Umsatzsteuergesetz (UStDB) vorgesehen. Zutreffend hat das FG darauf hingewiesen, daß nach dem klaren Wortlaut dieser Bestimmungen nur die unmittelbar der Krankenpflege dienenden Umsätze aus der Tätigkeit von Krankenanstalten von der Umsatzsteuer befreit sind.
Der aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) erhobene Einwand des Stpfl., dieses Ergebnis führe zu einer Ungleichmäßigkeit der Besteuerung gegenüber den Krankenanstalten, die nicht vom leitenden Arzt selbst betrieben würden, geht fehl. Solche Krankenanstalten gelangen allerdings auch mit ihren Umsätzen aus ambulanter Behandlung in den Genuß der Steuerfreiheit. Denn sie dienen der Krankenpflege als Krankenanstalten, auch wenn sie Leistungen bewirken, die in jeder Privatpraxis möglich wären. Die Tätigkeit eines Arztes kann steuerrechtlich aber nur insoweit der Tätigkeit der ihm gehörigen Krankenanstalt gleichgesetzt werden, als sie die Krankenanstalt zur notwendigen Voraussetzung hat. Andernfalls ergäben sich Ungleichmäßigkeiten der Besteuerung gegenüber praktizierenden Ärzten, die nicht Inhaber einer Krankenanstalt sind.
Auch aus der Entstehungsgeschichte des § 4 Ziff. 15 b UStG kann der Stpfl. für seine Rechtsauffassung nichts herleiten. Denn in § 4 Ziff. 15 UStG in der bis zum Zweiten Gesetz zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes vom 30. Juli 1952 (Bundesgesetzblatt I S. 393, BStBl I S. 618) gültigen Fassung waren nur Krankenanstalten begünstigt. Darüber hinaus ergibt eine Gegenüberstellung der Ziff. 11 und Ziff. 15 n. F. - worauf das FG zutreffend hingewiesen hat - daß der Gesetzgeber auch nach Einführung des Buchst. b nur die von einer Krankenanstalt und nicht auch die von einem Arzt erbrachten Leistungen begünstigen wollte.
Nach alledem sieht der Senat auch nach erneuter Prüfung der Streitfrage keine Veranlassung, von seiner im Urteil 148/56 U, a. a. O., dargelegten Auffassung abzuweichen.
Die Revision war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 425768 |
BFHE 1966, 181 |
BFHE 86, 181 |