Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Versäumung der Widerspruchsfrist. Anforderungen an eine vollständige Rechtsbehelfsbelehrung. Briefkopf eines Bescheids. Angabe einer E-Mail-Adresse der Behörde. Hinweis auf Widerspruchseinlegung in elektronischer Form als notwendiger Inhalt der Rechtsbehelfsbelehrung. elektronische Form nach § 36a Abs 2 SGB 1. kein Unterfall der Schriftform
Leitsatz (amtlich)
Wenn im Briefkopf eines Bescheids die E-Mail-Adresse der Behörde angegeben ist, muss eine vollständige Rechtsbehelfsbelehrung jedenfalls seit dem 1.1.2018 auch einen Hinweis auf die Möglichkeit der Einlegung des Widerspruchs in elektronischer Form beinhalten.
Orientierungssatz
Die elektronische Form nach § 36a Abs 2 SGB 1 ist eine selbstständige Form und nicht lediglich als Unterfall der Schriftform anzusehen (vgl zu § 65a SGG: BSG vom 14.3.2013 - B 13 R 19/12 R = SozR 4-1500 § 66 Nr 3 RdNr 18 und vom 12.10.2016 - B 4 AS 1/16 R = BSGE 122, 71 = SozR 4-1500 § 65a Nr 3 RdNr 11; zur selbstständigen elektronischen Form für das Widerspruchsverfahren bei § 70 Abs 1 S 1 VwGO : BVerwG vom 25.1.2021 - 9 C 8/19 = BVerwGE 171, 194 RdNr 41).
Normenkette
SGG §§ 66, 84; SGB I § 36a; SGB X § 36
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revisionen der Kläger wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 29. Oktober 2021 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die teilweise Aufhebung von Leistungsbewilligungen nach dem SGB II, die daraus folgenden Erstattungsforderungen und hierbei zunächst um die Frage, welche Frist für die nach Ablauf eines Monats eingelegten Widersprüche einzuhalten war.
Der Kläger zu 1 ist der Vater der Kläger zu 2 bis 4. Das beklagte Jobcenter bewilligte ihnen von Juni 2017 bis Mai 2018 Alg II bzw Sozialgeld (letzter Bescheid vom 22.6.2017) .
Der Kläger zu 1 war ab September 2017 erwerbstätig. Nach Übersendung von Verdienstbescheinigungen hob der Beklagte nach Anhörung der Kläger die Bewilligungsbescheide für September bis Oktober bzw November 2017 teilweise auf, da das Erwerbseinkommen zu einer Verringerung der Hilfebedürftigkeit geführt habe. Er forderte insoweit von den Klägern zwischen 301,13 Euro und 689,63 Euro zurück (Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 8.2.2018) . Die Rechtsbehelfsbelehrung in dem Bescheid vom 8.2.2018 lautete ua, dass innerhalb eines Monats "schriftlich oder zur Niederschrift bei der im Briefkopf genannten Stelle" Widerspruch einzulegen sei. Auf die Möglichkeit einer Widerspruchseinlegung in elektronischer Form nach § 36a Abs 2 SGB I wies der Beklagte nicht hin. Im Briefkopf teilte er seine E-Mail-Adresse mit.
Die am 27.12.2018 schriftlich eingelegten Widersprüche gegen den Bescheid vom 8.2.2018 verwarf der Beklagte als unzulässig (Widerspruchsbescheid vom 8.1.2019) . Der angegriffene Bescheid sei am 8.2.2018 bei der Post aufgegeben worden und gelte folglich am 11.2.2018 als bekannt gegeben. Die einmonatige Widerspruchsfrist beginne am Tag danach und habe am 12.3.2018 geendet. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien nicht ersichtlich.
Das SG hat die Klagen abgewiesen (Urteil vom 16.10.2020) , das LSG hat die Berufungen der Kläger zurückgewiesen (Urteil vom 29.10.2021). Der Bescheid vom 8.2.2018 sei bestandskräftig. Die Widersprüche seien nicht fristgerecht binnen eines Monats nach ihrer Bekanntgabe erhoben worden. Es gelte nicht die verlängerte Widerspruchsfrist von einem Jahr, denn es liege weder eine unvollständige noch eine unrichtige Rechtsbehelfsbelehrung vor. Zwar gehöre seit dem 1.1.2018 zu einer vollständigen Belehrung über die Form des Rechtsbehelfs auch der Hinweis auf die Möglichkeit der elektronischen Einlegung. Da der Beklagte aber einen entsprechenden Zugang bis zum 17.8.2020 noch nicht eröffnet gehabt habe, sei der fehlende Hinweis auf diese Möglichkeit unschädlich.
Mit ihren vom LSG zugelassenen Revisionen rügen die Kläger eine Verletzung von §§ 84 , 66 Abs 2 SGG iVm § 36a SGB I .
Die Kläger beantragen,
die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 29. Oktober 2021 und des Sozialgerichts Lübeck vom 16. Oktober 2020 sowie den Bescheid vom 8. Februar 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Januar 2019 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die zulässigen Revisionen der Kläger sind im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet ( § 170 Abs 2 Satz 2 SGG ) . Die Kläger haben fristgemäß Widerspruch gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 8.2.2018 eingelegt. Ob dieser Bescheid ganz oder teilweise rechtswidrig und daher aufzuheben ist, kann der Senat nicht entscheiden. Hierzu fehlt es an ausreichenden Feststellungen.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den vorinstanzlichen Urteilen der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 8.2.2018 und der Widerspruchsbescheid vom 8.1.2019. Mit den angegriffenen Verwaltungsakten hat der Beklagte zum einen die zuletzt am 22.6.2017 verfügte Bewilligung von Alg II bzw Sozialgeld für September bis Oktober 2017 (Kläger zu 1) bzw September bis November 2017 (Kläger zu 2 bis 4) teilweise aufgehoben und in diesem Umfang die Erstattung verlangt sowie sich auf die Bindungswirkung dieser Entscheidung ( § 77 SGG ) berufen. Die Kläger begehren die Aufhebung dieser Verwaltungsakte, weswegen die reine Anfechtungsklage statthaft ist ( § 54 Abs 1 Satz 1 Alt 1 SGG ) .
2. Die im Revisionsverfahren von Amts wegen zu prüfenden Sachentscheidungsvoraussetzungen liegen vor. Die Berufungen der Kläger bedurften gemäß §§ 143 , 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG nicht der Zulassung, obwohl die ihnen gegenüber geltend gemachten Forderungen jeweils für sich den Wert des Beschwerdegegenstands von 750 Euro nicht überstiegen. Mehrere Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft können ihre Klagen gemeinschaftlich führen (vgl Karl in jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 9 RdNr 230, Stand 10.7.2023) . Die subjektive Klagehäufung führt zu einer Addition der geltend gemachten Ansprüche ( § 202 Satz 1 SGG iVm § 5 ZPO ) , wofür die Rücknahme- und Erstattungsentscheidung gegenüber mehreren Personen in einem einheitlichen Bescheid - wie hier - jedenfalls hinreichende, wenn auch nicht notwendige Bedingung ist (zu an volljährige Kläger einzeln gerichteten Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden BSG vom 10.8.2016 - B 14 AS 51/15 R - SozR 4-4200 § 12 Nr 26 RdNr 10; zuletzt ua BSG vom 24.6.2020 - B 4 AS 10/20 R - SozR 4-1300 § 45 Nr 23 RdNr 18; Sommer in BeckOGK, § 144 SGG RdNr 26, Stand 1.8.2023) . Trotz der Verwerfung der Widersprüche als unzulässig ist das erforderliche Vorverfahren ( § 78 Abs 1 Satz 1 SGG ) durchgeführt und kann der Senat in der Sache entscheiden (vgl BSG vom 24.11.2011 - B 14 AS 151/10 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 54 RdNr 9; BSG vom 7.4.2022 - B 5 R 24/21 R - SozR 4-1300 § 31 Nr 15 RdNr 20).
3. Der gerichtlichen Überprüfung des Aufhebungs- und Erstattungsbescheids steht keine Bestandskraft entgegen. Die Kläger haben deren Eintritt durch ihre fristgerechten Widersprüche verhindert. Ihnen stand hierfür nicht die Monatsfrist, sondern aufgrund unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrung eine Widerspruchsfrist von einem Jahr zur Verfügung.
Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Widerspruchs ist grundsätzlich die Einreichung binnen eines Monats, nachdem der angegriffene Verwaltungsakt dem Beschwerten bekannt gegeben worden ist ( § 84 Abs 1 Satz 1 SGG ) . Diese Frist war bei Einlegung des Widerspruchs am 27.12.2018 abgelaufen. Zwar hat das LSG keine Tatsachen mitgeteilt, bei deren Vorliegen der Anwendungsbereich des § 37 Abs 2 Satz 1 SGB X eröffnet wäre (vgl BSG vom 3.3.2009 - B 4 AS 37/08 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 15 RdNr 17 mwN) . Indes kann nach dem Gesamtzusammenhang seiner Feststellungen davon ausgegangen werden, dass die Kläger den Bescheid von dem Beklagten spätestens am 16.3.2018 erhalten haben.
Die Frist für einen Rechtsbehelf beginnt aber nur dann zu laufen, wenn der Beteiligte hierüber belehrt worden ist. Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung eines Rechtsbehelfs im Regelfall innerhalb eines Jahres seit Bekanntgabe zulässig. Das folgt aus § 66 SGG , den § 84 Abs 2 Satz 3 SGG für entsprechend anwendbar erklärt. Welche konkreten Einzelangaben eine Belehrung enthalten muss, um richtig zu sein, ergibt sich aus den für die verschiedenen Rechtsbehelfe getroffenen spezifischen Regelungen (vgl BSG vom 28.5.1991 - 13/5 RJ 48/90 - BSGE 69, 9 = SozR 3-1500 § 66 Nr 1, juris RdNr 17) und aus § 66 Abs 1 SGG . Ist die Rechtsbehelfsbelehrung im Hinblick auf ihre erforderlichen Inhalte unrichtig, kommt es nicht darauf an, ob sie deswegen für die Fristversäumnis des Betroffenen ursächlich war (vgl BSG vom 9.4.2014 - B 14 AS 46/13 R - BSGE 115, 288 = SozR 4-1500 § 87 Nr 2, RdNr 17) . Demgegenüber müssen an sich in der Rechtsbehelfsbelehrung nicht erforderliche, aber fehlerhafte Angaben zumindest abstrakt Einfluss auf die verspätete Einlegung des Rechtsbehelfs gehabt haben, um zu einer Unrichtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung zu führen (stRspr, vgl nur BSG vom 9.4.2014 - B 14 AS 46/13 R - BSGE 115, 288 = SozR 4-1500 § 87 Nr 2, RdNr 17) .
Zu den erforderlichen Inhalten einer Rechtsbehelfsbelehrung über den Widerspruch zählt eine Belehrung über die bei seiner Einlegung zu beachtenden Formvorschriften (dazu a) . Hierzu gehört grundsätzlich auch die Belehrung über die Möglichkeit eines Widerspruchs in elektronischer Form (dazu b) . Nicht entscheidend ist insoweit, ob die Behörde gesetzlich verpflichtet ist, einen Zugang für die Übermittlung elektronischer Dokumente zu eröffnen oder ob sie sich freiwillig dafür entscheidet (dazu c) .
a) Zu einer zutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung gehört die Belehrung über die bei Einlegung des Rechtsbehelfs zu beachtenden Formvorschriften. Dies gilt im Verwaltungsverfahren nach dem SGB II schon aufgrund von § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II iVm § 36 Satz 1 SGB X . Danach ist der durch einen schriftlichen Verwaltungsakt Beschwerte nicht nur über den Rechtsbehelf und die Behörde oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, deren Sitz und die einzuhaltende Frist, sondern - ausdrücklich - auch über dessen Form schriftlich zu belehren (vgl demgegenüber § 37 Abs 6 Satz 1 VwVfG idF durch das Gesetz zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung von Planfeststellungsverfahren ≪PlVereinhG≫ vom 31.5.2013, BGBl I 1388) . Auch bei der unmittelbaren Anwendung des § 66 Abs 1 SGG für den Fristbeginn im gerichtlichen Verfahren entspricht es ständiger Rechtsprechung des BSG, dass über dessen Wortlaut hinaus nach Sinn und Zweck der Regelung eine Belehrung über den wesentlichen Inhalt der bei Einlegung des Rechtsbehelfs zu beachtenden Formvorschriften erforderlich ist (ausführlich BSG vom 14.3.2013 - B 13 R 19/12 R - SozR 4-1500 § 66 Nr 3 RdNr 16 mwN) .
b) Die vom Beklagten erteilte Rechtsbehelfsbelehrung musste den Hinweis auf die Möglichkeit der Einlegung des Widerspruchs in elektronischer Form nach § 36a Abs 2 SGB I enthalten.
Gemäß § 84 Abs 1 Satz 1 SGG (idF ab dem 1.1.2018 durch das Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 5.7.2017, BGBl I 2208) ist der Widerspruch binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekanntgegeben worden ist, schriftlich, in elektronischer Form nach § 36a Abs 2 SGB I oder zur Niederschrift bei der Stelle einzureichen, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Aus § 36a Abs 2 SGB I (idF durch das Gesetz zur Durchführung der Verordnung ≪EU≫ Nr 910/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.7.2014 über elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 1999/93/EG ≪eIDAS-Durchführungsgesetz≫ vom 18.7.2017, BGBl I 2745) ergibt sich, dass eine durch Rechtsvorschrift angeordnete Schriftform durch die elektronische Form ersetzt werden kann, wenn das elektronische Dokument mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist (Satz 2) oder in bestimmten Verfahren übermittelt wird (Satz 4) .
§ 84 Abs 1 Satz 1 SGG führt für das Widerspruchsverfahren die elektronische Form nach § 36a SGB I als eigenständige Form neben der Schriftform und der Einlegung zur Niederschrift auf. Auch § 36a Abs 2 Satz 1 SGB I stellt auf die "Ersetzung" der Schriftform durch die elektronische Form ab. Weil damit eine Form an die Stelle der anderen tritt, wird deutlich, dass beide Formen selbständig sind. Das schließt es aus, die elektronische Form nach § 36a Abs 2 SGB I lediglich als Unterfall der Schriftform anzusehen (vgl zu § 65a SGG BSG vom 14.3.2013 - B 13 R 19/12 R - SozR 4-1500 § 66 Nr 3 RdNr 18; BSG vom 12.10.2016 - B 4 AS 1/16 R - BSGE 122, 71 = SozR 4-1500 § 65a Nr 3, RdNr 11; zur selbständigen elektronischen Form für das Widerspruchsverfahren bei § 70 Abs 1 Satz 1 VwGO BVerwG vom 25.1.2021 - 9 C 8.19 - BVerwGE 171, 194 RdNr 41) . Zugleich wird die elektronische Form durch die unbeschränkte Aufnahme in die Aufzählung des § 84 Abs 1 Satz 1 SGG als der Schriftform und der Einlegung zur Niederschrift gleichrangige Form gekennzeichnet. Die Nutzung von Möglichkeiten der Einlegung von elektronischen Rechtsbehelfen - unter Verwendung einer qualifizierten elektronischen Signatur - hat sich jedenfalls zum 1.1.2018 allgemein etabliert, was Niederschlag in § 84 Abs 1 Satz 1 SGG und bundesweit für die Verfahren vor den Sozialgerichten in der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung ≪ERVV≫ vom 24.11.2017, BGBl I 3803) gefunden hat.
c) Da durch den Beklagten selbst die elektronische Kommunikation mit der Behörde ohne Beschränkung eröffnet war, hatte er über die Möglichkeit der Einlegung eines Widerspruchs in elektronischer Form nach § 36a Abs 2 SGB I zu belehren.
Ob der Beklagte verpflichtet war, den Zugang für die elektronische Form nach § 36a Abs 2 SGB I wahrende Dokumente zu eröffnen, kann insoweit dahingestellt bleiben (dazu aa) . Denn der Beklagte hat mit der Angabe einer E-Mail-Adresse im Briefkopf des angefochtenen Bescheids den für die Übermittlung eines elektronischen Dokuments erforderlichen Zugang iS des § 36a Abs 1 SGB I zumindest konkludent eröffnet (dazu bb) . Diese Zugangseröffnung verpflichtete ihn zu korrespondierenden Hinweisen in der Rechtsbehelfsbelehrung (dazu cc) . Daran ändern tatsächlich nicht vorgehaltene technische Möglichkeiten zur Bearbeitung elektronisch eingelegter Widersprüche oder eine fehlende Nutzung des Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfachs (EGVP) nichts (dazu dd) .
aa) Offenlassen kann der Senat, ob der Beklagte wie andere Behörden zur Schaffung eines elektronischen Zugangs bereits nach Maßgabe des § 84 Abs 1 Satz 1 SGG oder Landesrecht (spätestens) zum 1.1.2018 verpflichtet gewesen wäre.
Allein die Erweiterung des Wortlauts von § 84 Abs 1 Satz 1 SGG zum 1.1.2018 gäbe hierfür nichts her. Denn ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien sollte mit der Ergänzung um die elektronische Form lediglich klargestellt werden, dass unter Beachtung der Voraussetzungen des § 36a Abs 2 SGB I die elektronische Einreichung des Widerspruchs bereits derzeit zulässig sei (Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs, BT-Drucks 18/12203 S 85) . Die Regelung verstärkt daher eher das schon in § 36a SGB I angelegte rechtliche "Dürfen" der Nutzung der Form des § 36a Abs 2 SGB I , auch in Abgrenzung zu den im SGG sonst geltenden Vorgaben für die formwahrende Übermittlung elektronischer Dokumente (vgl § 65a SGG ) .
Dagegen ist nicht erkennbar, dass durch die Änderung des § 84 Abs 1 Satz 1 SGG das Erfordernis der Zugangseröffnung aus § 36a Abs 1 SGB I (idF des Dritten Gesetzes zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften vom 21.8.2002, BGBl I 3322) modifiziert werden sollte (vgl B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 84 RdNr 3) . Nach dieser Vorschrift ist die Übermittlung elektronischer Dokumente zulässig, soweit der Empfänger hierfür einen Zugang eröffnet. Für die vergleichbare Aufnahme der Möglichkeit der elektronischen Rechtsbehelfseinlegung in § 357 Abs 1 AO (idF des Gesetzes zur Förderung der elektronischen Verwaltung sowie zur Änderung weiterer Vorschriften vom 25.7.2013, BGBl I 2749) ist in den Materialien ausdrücklich festgehalten, dass der Einspruch elektronisch unter der Voraussetzung der Zugangseröffnung ( § 87a Abs 1 AO ) eingelegt werden könne (vgl Entwurf der Bundesregierung zum Gesetz zur Förderung der elektronischen Verwaltung sowie zur Änderung weiterer Vorschriften, BR-Drucks 557/12 S 80) . Übertragen auf § 84 Abs 1 SGG und § 36a Abs 1 SGB I bedeutete dies, dass sich unmittelbar aus § 84 Abs 1 SGG keine Verpflichtung ergäbe, die Einlegung eines Widerspruchs auf elektronischem Weg auch zu ermöglichen. Vielmehr ist die Entscheidungsfreiheit der Sozialleistungsträger für eine Zugangseröffnung gemäß § 36a Abs 1 SGB I in anderen Bereichen des SGB durch § 2 Abs 1 des Gesetzes zur Förderung der elektronischen Verwaltung (E-Government-Gesetz - EGovG vom 25.7.2013, BGBl I 2749) eingeschränkt. Die Regelungen des EGovG gelten indes ausdrücklich nicht für die Verwaltungstätigkeit nach dem SGB II ( § 1 Abs 5 Nr 3 EGovG ; dazu BR-Drucks 557/12 S 47) .
Ob sich aus Landesrecht die Verpflichtung zur Zugangseröffnung ergeben kann, hat das LSG dahingestellt gelassen. Das Urteil enthält insoweit keine Feststellungen, weshalb der Senat diese selbst treffen dürfte (zuletzt BSG vom 23.3.2021 - B 8 SO 16/19 R - BSGE 132, 41 = SozR 4-3500 § 27b Nr 2, RdNr 17 mwN) . Indes erschlösse sich eine Gesetzgebungskompetenz des Landes für das Verwaltungsverfahren nach dem SGB II insoweit nicht, zumal der Beklagte als gemeinsame Einrichtung ( § 44b SGB II ) gebildet ist (vgl allgemein § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II , nach dem für das Verwaltungsverfahren nach dem SGB II das SGB X gilt) . Bereichsspezifische Anordnungen an die Jobcenter zur Eröffnungspflicht bezogen auf die elektronische Kommunikation mit Bürgern enthält das SGB II nicht.
bb) Der Beklagte hatte nach den Feststellungen des LSG einen Zugang für die Übermittlung elektronischer Dokumente aber unabhängig davon zumindest konkludent eröffnet ( § 36a Abs 1 SGB I ) .
Der Begriff "Zugang" stellt auf die objektiv vorhandene Kommunikationseinrichtung ab, die technisch den Empfang elektronischer Dokumente ermöglicht, also zB auf ein E-Mail-Postfach. Den individuellen Möglichkeiten - und § 36a Abs 1 SGB I - wird durch das Erfordernis der "Eröffnung" dieses Zugangs Rechnung getragen (Entwurf der Bundesregierung zum Dritten Gesetz zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften BR-Drucks 343/02 S 69) . Der Empfänger eröffnet seinen Zugang durch entsprechende Widmung, im Fall des § 36a SGB I durch die nach außen erkennbare Bereitschaft, elektronische Dokumente zu empfangen (zu den Anforderungen an eine Widmung bei § 36a Abs 1 SGB I Wichner in BeckOGK, § 36a SGB I RdNr 36, Stand 1.3.2022) . Dies kann ausdrücklich, aber auch konkludent erfolgen ( BR-Drucks 343/02 S 69). Im Einzelfall ist die Verkehrsanschauung maßgebend, die sich mit der Verbreitung elektronischer Kommunikationsmittel fortentwickelt (vgl BR-Drucks 343/02 S 69) . Soll sich die Bereitschaft allein auf die nicht formbedürftige elektronische Kommunikation gegenüber der Verwaltung beziehen, ist dies ausdrücklich kenntlich zu machen. Im Hinblick auf die Verkehrsanschauung ist insoweit zu erwarten, dass nach den Verfahrensgesetzen ausdrücklich gestattete Verfahrenshandlungen - wie zB die Einlegung des Widerspruchs in elektronischer Form bei § 84 Abs 1 Satz 1 SGG - durch die Verwaltung auch ermöglicht werden. Eine gesonderte Widmung für den Empfang von Dokumenten, die die elektronische Form wahren, ist daher nicht erforderlich (ähnlich Müller, NVwZ 2020, 1092, 1094 ; aA Gutzler in BeckOK Sozialrecht, § 36a SGB I RdNr 23, Stand 1.6.2023) .
Der Beklagte hatte ein E-Mail-Postfach eingerichtet. Die Angabe der Behörden-E-Mail-Adresse im Bescheidbriefkopf beinhaltet nach der allgemeinen Verkehrsanschauung, dass der Beklagte über diese E-Mail-Adresse die Kommunikation mit ihm eröffnet hat und für die Bearbeitung aller dort eingehenden E-Mails Sorge trägt. Hinweise darauf, dass dies nicht auch für die Einlegung von Widersprüchen gelten soll, enthält der Bescheid nicht. Vielmehr verweist die Rechtsbehelfsbelehrung ausdrücklich auf die "im Briefkopf genannte Stelle", wo auch die E-Mail-Adresse angegeben ist. Eine Mitteilung auf der Homepage des Beklagten, dass "Widersprüche nicht rechtswirksam per E-Mail erhoben werden können, sondern schriftlich oder zur Niederschrift erfolgen müssen", mag als allgemeine Information zutreffen (bezogen auf einen nicht mit qualifizierter elektronischer Signatur versehenen Widerspruch). Sie steht aber in keinem Zusammenhang mit dem erlassenen Verwaltungsakt und kann daher keine Wegweiserfunktion für den einzulegenden Rechtsbehelf haben (vgl zur Verbindung von Verwaltungsakt und Belehrung Mutschler in BeckOGK, § 36 SGB X RdNr 20, Stand 1.5.2021) .
Jedenfalls mit der konkludenten Eröffnung des elektronischen Zugangs auch für formgebundene Erklärungen musste der Beklagte darüber unterrichten, dass es drei Möglichkeiten gibt, den Widerspruch formgerecht einzulegen. Stehen den Betroffenen aufgrund gesetzgeberischer Vorgaben und ggf zusätzlicher Entscheidung der Verwaltung drei Formen der Widerspruchseinlegung zur Verfügung, darf frei gewählt werden (zur Wahl zwischen schriftlicher Klageerhebung und Klageerhebung durch Niederschrift vgl BSG vom 11.2.1958 - 10 RV 123/56 - BSGE 7, 1, 2 f = juris RdNr 10) . Mindestens in diesem Fall gibt seit der Etablierung der elektronischen Form in § 84 Abs 1 Satz 1 SGG ab dem 1.1.2018 dessen Formulierung den erforderlichen Inhalt einer Belehrung über die Form vor. Da die Rechtsbehelfsbelehrung insoweit schweigt, ist sie unrichtig.
cc) Ob der Beklagte im Februar 2018 tatsächlich in der Lage war, iS des § 36a Abs 2 SGB I elektronisch eingelegte Widersprüche zu bearbeiten oder ob dies erst, wie er vorträgt, nach dem 17.8.2020 der Fall war, ist für die Frage der inhaltlichen Anforderungen an eine zutreffende Belehrung ohne rechtliche Bedeutung.
Das gilt zum einen, wenn dem Beklagten die technischen Möglichkeiten gefehlt haben sollten, die Einhaltung der Formvorgaben bei auf elektronischem Weg eingelegten Widersprüchen des § 36a Abs 2 SGB I zu prüfen. Korrespondierend mit der Eröffnung des Zugangs war der Beklagte verpflichtet, die ordnungsgemäße Nutzbarkeit durch organisatorische Maßnahmen sicherzustellen (vgl BR-Drucks 343/02 S 69) . Software, die eine Prüfung qualifiziert signierter Dokumente ermöglicht, stand zur Verfügung. Falls dem Beklagten gleichwohl aus technischen Gründen die auch eine Formprüfung umfassende Bearbeitung elektronisch eingelegter Widersprüche nicht möglich war, hätte ihn die Pflicht aus § 36a Abs 3 Satz 1 SGB I getroffen. Danach muss die Behörde, die ein übermitteltes elektronisches Dokument nicht bearbeiten kann, dies dem Absender unter Angabe der für sie geltenden technischen Rahmenbedingungen unverzüglich mitteilen.
dd) Dieses Ergebnis ändert sich auch nicht, wenn der Beklagte nicht in das Adressverzeichnis des EGVP aufgenommen war. Nur für die Einreichung bei Gericht sind die zugelassenen elektronischen Übermittlungswege durch § 4 Abs 1 ERVV auf die sicheren Übermittlungswege des § 65a Abs 4 SGG und das EGVP beschränkt (vgl § 1 Abs 1 Satz 1 ERVV ; zu § 3a VwVfG Bund Hoes, Der elektronische Rechtsverkehr im Verwaltungsrecht, NVwZ 2022, 285 ) . Im Gegensatz zum elektronischen Rechtsverkehr mit den Gerichten gibt es bei der Kommunikation mit den Behörden keinerlei Vorgaben für die Übermittlung des elektronischen Dokuments. Sichere Übermittlungswege iS des § 65a Abs 4 SGG kennt das (ältere) Verwaltungsverfahrensrecht nicht, sondern regelt die Schriftformersetzung vollständig abweichend (Müller in jurisPK-ERV § 36a SGB I RdNr 7, Stand 26.6.2023) . Im Verwaltungsverfahren ist die Einreichung eines Widerspruchs über den Übermittlungsweg einer einfachen E-Mail daher nicht ausgeschlossen (Wichner in BeckOGK, § 36a SGB I RdNr 53, Stand 1.3.2022; BVerwG vom 7.12.2016 - 6 C 12.15 - juris RdNr 21 ) . In diesem Fall ist die Verwendung eines elektronischen Dokuments mit einer qualifizierten elektronischen Signatur erforderlich, aber auch ausreichend. Soweit eine Behörde ein E-Mail-Postfach hat, kann sie qualifiziert signierte Dokumente elektronisch empfangen ( BR-Drucks 557/12 S 49).
4. Trotz fehlender Bestandskraft des angefochtenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheids ist es dem Senat nicht möglich, dessen formelle und materielle Rechtmäßigkeit zu prüfen. Dazu fehlen tatsächliche Feststellungen des LSG. Wegen der der Zulassungsentscheidung zugrunde liegenden Rechtsfrage weist der Senat darauf hin, dass die Aufhebung für den Kläger zu 1 bestimmt genug, aber für den Monat Oktober 2017 der Höhe nach falsch sein kann. Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird das LSG auch die Beschränkung der Haftung der inzwischen volljährig gewordenen Kläger zu 2 und 3 nach § 1629a BGB zu prüfen haben.
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Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten. |
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Siefert |
Harich |
Neumann |
Fundstellen
Haufe-Index 16079368 |
NJW 2024, 2421 |
NZS 2024, 504 |
SGb 2023, 756 |
ZfF 2024, 121 |
ZfSH/SGB 2024, 320 |