Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäische Ermittlungsanordnung. Vernehmung per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung. Strafverfolgung in einem Mitgliedstaat gegen eine Person mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat. Möglichkeit für diese Person, an der Verhandlung per Videokonferenz teilzunehmen, wenn keine Europäische Ermittlungsanordnung vorliegt
Normenkette
RL 2014/41/EU Art. 24
Beteiligte
AVVA u. a. (Procès par vidéoconférence en l’absence d’une décision d’enquête européenne) |
AS „Latgales Invest Holding“ |
AS „Ditton pievadķēžu rūpnīca“ |
Tenor
Über die von der Ekonomisko lietu tiesa (Gericht für Wirtschaftssachen, Lettland) mit Entscheidungen vom 28. März 2023 und vom 21. April 2023 vorgelegten Vorabentscheidungsersuchen ist nicht zu entscheiden.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen C-255/23 und C-285/23
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Ekonomisko lietu tiesa (Gericht für Wirtschaftssachen, Lettland) mit Entscheidungen vom 28. März 2023 und vom 21. April 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 19. April 2023 und am 3. Mai 2023, in den Strafverfahren gegen
A,
B,
C,
D,
F,
E,
G,
SIA „AVVA“,
SIA „Liftu alianse“,
Beteiligte:
Rīgas tiesas apgabala prokuratūra(C-255/23),
und
A,
B,
C,
Z,
F,
AS „Latgales Invest Holding“,
SIA „METEOR HOLDING“,
METEOR Kettenfabrik GmbH,
SIA „Tool Industry“,
AS „Ditton pievadķēžu rūpnīca“,
Beteiligte:
Latvijas Investīciju un attīstības aĢentūra,
Rīgas tiesas apgabala prokuratūra(C-285/23),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Sechsten Kammer und des Richters P. G. Xuereb,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von A, vertreten durch I. Balmaks, Advokāts,
- – der lettischen Regierung, vertreten durch J. Davidoviča und K. Pommere als Bevollmächtigte,
- – der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,
- – der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und Zs. Biró-Tóth als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Baumgart, V. Hitrovs, H. Leupold und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 1 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 Buchst. a und Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. 2014, L 130, S. 1) sowie von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1).
Rz. 2
Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Strafverfahren gegen A, B, C, D, F, E, G, die SIA „AVVA“ und die SIA „Liftu alianse“ (C-255/23) sowie gegen A, B, C, Z, F, die AS „Latgales Invest Holding“, die SIA „METEOR HOLDING“, die METEOR Kettenfabrik GmbH, die SIA „Tool Industry“ und die AS „Ditton pievadķēžu rūpnīca“ (C-285/23) wegen schweren bandenmäßigen Betrugs, organisierter Geldwäsche, Amtsmissbrauchs und Beihilfe zu schwerem Betrug und schwerer Geldwäsche.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2014/41
Rz. 3
Nach dem achten Erwägungsgrund Satz 1 der Richtlinie 2014/41 „[sollte die Europäische Ermittlungsanordnung] übergreifenden Charakter haben und sollte daher für alle Ermittlungsmaßnahmen gelten, die der Beweiserhebung dienen.“
Rz. 4
Art. 1 („Die Europäische Ermittlungsanordnung und die Verpflichtung zu ihrer Vollstreckung“) dieser Richtlinie sieht in den Abs. 1 und 3 vor:
„(1) Eine Europäische Ermittlungsanordnung (im Folgenden,EEA‘) ist eine gerichtliche Entscheidung, die von einer Justizbehörde eines Mitgliedstaats (,Anordnungsstaat‘) zur Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahme(n) in einem anderen Mitgliedstaat (,Vollstreckungsstaat‘) zur Erlangung von Beweisen gemäß dieser Richtlinie erlassen oder validiert wird.
Die Europäische Ermittlungsanordnung kann auch in Bezug auf die Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaats befinden, erlassen werden.
…
(3) Der Erlass einer EEA kann von einer verdächtigen oder beschuldigten Person oder in deren Namen von einem Rechtsanwalt im Rahmen der geltenden Verteidigungsrechte im Einklang mit dem nationalen Strafverfahrensrecht beantragt werden.“
Rz. 5
In Art. 3 („Anwendungsbereic...