Erstausbildung oder erstmalige Berufsausbildung

Die unterschiedlichen Bedeutungen und Auslegungen der Begriffe "Erstausbildung" und "erstmalige Berufsausbildung" wirken sich praktisch aus.

Sie führen nämlich zu dem Ergebnis, dass bei Vorliegen einer erstmaligen Berufsausbildung i. S. d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einerseits Anspruch auf Kindergeld besteht, und andererseits die Kosten der Berufsausbildung nach § 9 Abs. 6 Satz 2 EStG als Werbungskosten abzugsfähig sein können, obwohl die Kosten für die eigene Berufsausbildung nach § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG grundsätzlich nur als Sonderausgaben bis zu einem Höchstbetrag von 6.000 EUR abzugsfähig sind.

Hintergrund: Gleichklang durchbrochen

Nach der Rechtsprechung des BFH zum Kindergeld besteht bei der Auslegung der in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG verwendeten Begriffe der erstmaligen beruflichen Ausbildung und des Erststudiums keine Bindung an eine ggf. abweichende Auslegung dieser Begriffe im Rahmen des § 9 Abs. 6 EStG. Auch die Finanzverwaltung hat (BMF,  Schreiben v. 8.2.2016, IV C 4 - S 2282 07 0001 - 01) geregelt, dass die kindergeldrechtliche Rechtsprechung anzuwenden istund es für die Frage, ob eine erstmalige Berufsausbildung oder ein Erststudium nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG abgeschlossen sind, nicht darauf ankommt, ob die Berufsausbildung bzw. das Studium die besonderen Voraussetzungen für eine Erstausbildung i. S. d. § 9 Abs. 6 EStG erfüllen. Folglich wird der Gleichklang durchbrochen, sodass kindergeldrechtlich ein (günstiges) Erststudium und für die Frage, ob es sich um Werbungskosten oder Sonderausgaben handelt, ein (günstiges) Zweitstudium vorliegen kann.

Aktualisierung: Das Niedersächsische FG hat im Leitsatz des Urteils v. 30.1.2024, 8 K 134/23, erstmals die Auffassung vertreten, dass der Begriff der erstmaligen Berufsausbildung nach des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG und der Begriff der Erstausbildung nach § 9 Abs. 6 Satz 2 EStG einheitlich auszulegen seien.

Begriff der erstmaligen Berufsausbildung i. S. d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG

Der BFH hat mit seinem Urteil v. 15.4.2015, V R 27/14 (mehraktige Ausbildung) und dem Urteil v. 3.9.2015, VI R 9/15 (konsekutives Masterstudium), den Begriff der "erstmaligen Berufsausbildung" i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG so ausgelegt, dass diese erst abgeschlossen ist, wenn das von Eltern und Kind bestimmte endgültige Berufsziel erreicht ist, und wenn die verschiedenen Ausbildungsabschnitte in einem engen sachlichen (gleiche Berufssparte) und zeitlichen Zusammenhang (nächstmöglicher Zeitpunkt) stehen.

Aktualisierung: Im Urteilsfall des Niedersächsischen FG vom 30.1.2024 ging es um die Frage, ob eine 3 ½ Monate dauernde Ausbildung zur Rettungssanitäterin eine erstmalige Berufsausbildung i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG darstellt. Aus den der Urteilsgründen ergibt sich jedoch, dass der im Leitsatz aufgestellte Grundsatz (s.o.) nur für die Fälle einer kurzen, unter 12 Monate dauernden Erstausbildung anzuwenden ist. In allen übrigen Fällen, insbesondere in Fällen der sogenannten "mehraktigen Ausbildung" bleibt es bei der unterschiedlichen Begriffsauslegungen mit den entsprechenden Folgen.

Begriff der Erstausbildung i. S. d. § 9 Abs. 6 Satz 2 EStG

In § 9 Abs. 6 Satz 1 EStG ist geregelt, dass die Aufwendungen für eine Berufsausbildung oder ein Studium als Werbungskosten abzugsfähig sind, wenn der Stpfl. bereits eine Erstausbildung abgeschlossen hat. Nach Satz 2 dieser Vorschrift liegt eine "Erstausbildung" vor, wenn eine geordnete Ausbildung mit einer Mindestdauer von 12 Monaten bei vollzeitiger Ausbildung und mit einer Abschlussprüfung durchgeführt wird. Eine sogenannte "kurze Ausbildung" in diesem Sinne eröffnet die Möglichkeit des Werbungskostenabzugs für die Kosten aller weiteren Ausbildungsmaßnahmen.

Auswirkungen der unterschiedlichen Begriffsauslegungen 

Die Auswirkungen der unterschiedlichen Begriffsauslegungen werden am besten am Beispiel des BFH-Urteil v. 15.4.2015, V R 27/14 , deutlich. 

Im Streitfall ging es um die Frage, ob der Sohn der Kläger nach erfolgreicher Beendigung seiner Lehre als Elektroniker im Februar 2012 seine Berufsausbildung i. S. d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG abgeschlossen hatte, mit der Folge, dass bei einer weiteren Ausbildung Kindergeld nur noch zu zahlen gewesen wäre, wenn der Sohn keiner schädlichen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist. Da der Sohn das Berufsziel eines Elektroingenieurs anstrebte, bewarb er sich um einen Platz an der Fachoberschule für Technik.  Am 28.2.2012 unterschrieb er einen auf 2 Jahre befristeten Arbeitsvertrag in üblich bezahlter Vollzeitbeschäftigung, aufgrund dessen er von März bis Juli 2012 in seinem erlernten Beruf arbeitete. Nachdem er eine Zusage der Fachoberschule für Technik erhalten hatte, beendete er das Arbeitsverhältnis vorzeitig, um ab Mitte August 2012 diese Bildungseinrichtung besuchen zu können. Der einjährige Vollzeitunterricht erfolgte zur Vorbereitung des Studiums an einer Fachhochschule und war Voraussetzung, ein solches aufnehmen zu können. Die Familienkasse hob die Kindergeldfestsetzung für März – bis Juli 2012 auf, da ein Anspruch auf Kindergeld für diesen Zeitraum nicht bestehe, weil der Sohn nach Abschluss einer erstmaligen Berufsausbildung im Februar 2012 – ab März bis Juli 2012 einer Erwerbstätigkeit von mehr als 20 Stunden pro Woche nachgegangen sei. 

Der BFH hat entschieden, dass den Klägern Kindergeld zusteht, da der Tatbestand "Abschluss einer erstmaligen Berufsausbildung" i. S. d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht bereits mit dem ersten (objektiv) berufsqualifizierenden Abschluss erfüllt sein muss. Mehraktige Ausbildungsmaßnahmen seien Teil einer einheitlichen Erstausbildung, wenn sie zeitlich und inhaltlich so aufeinander abgestimmt sind, dass die Ausbildung nach Erreichen des ersten Abschlusses fortgesetzt werden soll und das - von den Eltern und dem Kind - bestimmte Berufsziel erst über den weiterführenden Abschluss erreicht werden kann.

Aktualisierung: Mit Urteil v. 12.10.2023, III R 10/22 (zum engen zeitlichen Zusammenhang) hat der BFH entschieden, dass eine aus mehreren Ausbildungsabschnitten bestehende einheitliche Erstausbildung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nur dann vorliegt, wenn die einzelnen Ausbildungsabschnitte in einem engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang zueinanderstehen. Der enge zeitliche Zusammenhang sei nur gewahrt, wenn das Kind den nächsten Teil der mehraktigen Ausbildung, also beispielsweise das Masterstudium zum nächstmöglichen Termin aufnimmte. An einem engen zeitlichen Zusammenhang fehle es aber, wenn das Kind dazwischen einen Freiwilligendienst absolviere, statt die Ausbildung sogleich fortzusetzen.

Abzug der Kosten des Studiums als Werbungskosten

Nach § 9 Abs. 6 Satz 2 bis 5 EStG ist eine Berufsausbildung als abgeschlossene "Erstausbildung" anzusehen, wenn eine geordnete Ausbildung mit einer Mindestdauer von 12 Monaten bei vollzeitiger Ausbildung und mit einer Abschlussprüfung durchgeführt wird. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, sind die Kosten für alle weiteren Ausbildungsmaßnahmen als Werbungskosten abzugsfähig. Da der Sohn in dem o. a. Beispiel mit dem erfolgreichen Abschluss der Lehre als Elektroniker eine "Erstausbildung" in diesem Sinne abgeschlossen hat, kann er die Kosten des Besuches der Fachoberschule und des Studiums als Werbungskosten geltend machen, obwohl kindergeldrechtlich eine "erstmalige Berufsausbildung" i. S. d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG vorliegt.

Praxis-Tipp: Feststellung eines verbleiben Verlustvortrags

Während die Kosten einer Erstausbildung nur als Sonderausgaben nach § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG bis zur Höhe von 6.000 EUR abzugsfähig sind, und der Sonderausgabenabzug außerdem wegen fehlender Einkünfte oft "ins Leere" geht, kann beim Abzug als Werbungskosten die Feststellung eines verbleiben Verlustvortrags beantragt werden. Dadurch wird die Möglichkeit eröffnet, die negativen Einkünfte der Studienjahre im Wege des Verlustvortrags in das bzw. die Jahre vorzutragen, in denen erstmals, aufgrund der nunmehr abgeschlossenen Berufsausbildung, positive Einkünfte erzielt werden.

Wenn in der Praxis die Finanzämter den Werbungskostenabzug für eine (günstige) Zweitausbildung oder Zweitstudium versagen, da es sich bei den Ausbildungskosten um Sonderausgaben i. S. des § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG handele, sollten Betroffenen gegen diese Steuerbescheide Einspruch einlegen und den Werbungskostenabzug sowie ggf. die Feststellung eines verbleiben Verlustvortrags beantragen.