Die heutige Lebens- und Arbeitswelt ist so gestaltet, dass wir uns relativ sicher darin bewegen können: potenziell gefährliche Situationen werden so weit wie möglich minimiert oder ganz ausgeschaltet. Das gilt zumindest in Deutschland und in vielen westlichen Industrienationen: Wohnhäuser und Straßen werden sicher gebaut, die Atomkraft wird zugunsten anderer Energiequellen heruntergefahren, sichere Arbeitsbedingungen werden als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, der Verkehr wird so geregelt, dass Unfälle im Straßen-, Schienen- und Luftverkehr möglichst vermieden werden können.
Versicherungen aller Art sichern uns gegen alle erdenklichen Risiken ab. Staatliche Institutionen bieten uns mit ihrer Existenz und zahlreichen Gesetzen ein Höchstmaß an Sicherheit und Schutz.
Dieses menschliche Grundbedürfnis nach Sicherheit, Schutz und Stabilität beschreibt der Motivationsforscher Abraham Maslow bereits 1943 in seiner Bedürfnispyramide: Sicherheitsbedürfnisse stehen nach den physiologischen Überlebensbedürfnissen, wie Essen, Trinken und Schlafen, an zweiter Stelle in der Hierarchie universeller menschlicher Bedürfnisse.
Im Kontrast dazu suchen wir uns Hobbys, die unsere Adrenalinproduktion in Gang setzen: Bungee Jumping, Freeclimbing, Rafting, Drachenfliegen, Fallschirmspringen, Motorradfahren oder Autorennen verschaffen Aufregung und bringen Schwung in unseren i. d. R. durchorganisierten Alltag.
Viele Beispiele für gesuchte Risiken
- Verkehrsregeln werden wissentlich missachtet, indem man sich auch mal mit einem Glas zu viel ans Steuer setzt. Tempovorgaben gelten nicht für einen selbst und Anschnallen für die kurze Fahrt zum Bäcker um die Ecke wird als nicht nötig erachtet.
- Wir zocken in Spielkasinos und im Internet, erleben Hochs und Tiefs an der Börse mit angehaltenem Atem und erhöhter Herzschlagfrequenz. Auch selbst produzierter Zeitstress durch das Erledigen von Arbeiten auf den letzten Drücker oder provoziertes Zuspätkommen gehören in diese Kategorie selbstverursachter Risiken.
- Selbst bei der Arbeit verhalten wir uns mitunter bewusst sicherheitswidrig, wenn Arbeitssicherheitsvorschriften außer Kraft gesetzt werden, die vorgeschriebene Schutzausrüstung nicht verwendet wird oder verbotene Abkürzungen benutzt werden.
Wie lässt sich dieses widersprüchliche Verhalten erklären?
Es scheint, als ob der Mensch nicht nur ein Sicherheitsbedürfnis, sondern auch ein Risikobedürfnis hat. "Ein Leben ohne Risiko wäre öde und langweilige Routine", so der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologe Professor Rüdiger Trimpop von der Universität Jena. Das Eingehen von Risiken verschafft uns Abwechslung im Alltag und bringt Schwung in unseren durchorganisierten und vorhersagbaren Alltag. Nur so können wir ihn überhaupt sinnvoll und angstfrei bewältigen, ergänzt der Risikoforscher Klaus Heilmann. Die Verdrängung von Gefahren sei sogar zweckmäßig, denn "wir können nicht jedes Mal Todesangst haben, wenn wir über eine Brücke gehen, auch wenn immer wieder Brücken einstürzen". Erst mit Herausforderungen, deren Bewältigung ungewiss ist, entwickeln wir uns weiter, wobei zu viel Leichtsinn der Gesundheit auch abträglich ist.