Risiko- und Entscheidungsforscher haben menschliches Verhalten in Bezug auf Risikovermeidung und Risikolust untersucht und liefern Erklärungen für unser zwiespältiges Verhalten: Wie nehmen Menschen bekannte und neue Situationen, deren Ausgang sie nicht kennen, wahr und welche Entscheidung treffen sie? Wie hoch ist das Risiko, das sie bereit sind, dabei einzugehen?

Dabei gilt im Umgang mit Risiken, dass diese i. d. R. nicht rational, sondern emotional eingeschätzt werden. D. h., es gibt kein objektives Erleben einer Gefahrensituation. Das Risikoempfinden ist immer auch abhängig von der Person, welche das Gefahrenpotenzial einschätzt: mit ihrer Erfahrung, ihrem Wissen, ihren Fähigkeiten und ihrem Können, dem Alter, dem Geschlecht, ihrer aktuellen Verfassung. Auch die Gene und die erfahrene Sozialisation üben Einfluss auf risikofreudigere oder risikovermeidende Entscheidungen aus.

Folgende Phänomene sind belegt:

2.1 Risikoüberschätzung versus Risikounterschätzung

Die subjektive Bewertung der Gefährlichkeit einer Situation zeigt: Je gefährlicher wir eine Situation einschätzen, umso mehr sind wir auf Sicherheit bedacht; je alltäglicher und harmloser eine Situation erscheint, desto sorgloser begegnen wir ihr. Wir sind besonders vorsichtig beim Umgang mit feuergefährlichen Stoffen, stürmen aber die Treppe hinunter, ohne den Handlauf zu benutzen. Wir steigen auf den Stuhl, um die Glühbirne auszuwechseln, anstatt einen Tritt oder eine Leiter zu verwenden, würden aber nicht an der Dachkante arbeiten, ohne uns abzusichern.

Untersuchungen zeigen, dass wir uns in der Gefährlichkeit vieler Situationen verschätzen. In 70 % aller Fälle wird die Gefährlichkeit einer Tätigkeit realistisch bewertet. In jeweils 15 % aller Fälle wird die Gefährlichkeit einer Situation unter- oder überschätzt: bei den überschätzten gefährlichen Tätigkeiten ereignen sich nur 6 % aller Unfälle, bei der unterschätzten Gefährlichkeit einer Tätigkeit passieren 44 % aller Unfälle. D. h., Unfälle ereignen sich besonders häufig dann, wenn wir uns sicher fühlen.

Routine in der Ausübung von Handlungen kann ebenfalls dazu führen, dass Risiken unterschätzt werden. Man kann das auch als "gelernten Leichtsinn" interpretieren: 99-mal ist trotz sicherheitskritischem Verhalten nichts passiert, was die Überzeugung stärkt, das Risiko einzugehen lohne sich – was aber nicht der Wahrscheinlichkeit entspricht. Das Risiko, Schaden zu nehmen, ist gleich groß wie beim ersten Mal. Schutzvorkehrungen, wie Anschnall- und Helmpflicht oder Schutzkleidung, senken nicht die Wahrscheinlichkeit für einen Unfall, sondern begrenzen höchstens das Ausmaß des Schadens.

2.2 Kontrollillusion

Mit Routine hat auch die Kontrollillusion zu tun. Routinierte Könner sind davon überzeugt, potenziell gefährliche Situationen im Griff zu haben. Fragt man Autofahrer, ob sie zu den besseren oder weniger guten Autofahrern gehören, behaupten 80 % der Befragten, dass sie zu den besseren Autofahrern gehören.

Auch glauben viele Menschen, Vorgänge kontrollieren zu können, die erwiesenermaßen nicht beeinflussbar sind. So glauben sie, Einfluss auf die Ergebnisse von Glücksspielen nehmen zu können, wenn sie bestimmte Zahlen, wie Geburtstage oder sonstige wichtige persönliche Daten, auswählen.

Gravierender zeigt sich die Kontrollillusion bei Untersuchungen von Flugzeugunfällen. In vielen kritischen Situationen kam es zum Unglücksfall, weil der erfahrene Kapitän unter Vorbehalt seiner Expertise auf Einwände des (meist jüngeren) Co-Piloten nicht hörte.

2.3 Kosten-Nutzen-Abwägung einer Entscheidung

Auch der Kosten-Nutzen-Effekt einer Handlung, der immer eine Entscheidung vorausgeht, hat Einfluss darauf, welches Risiko akzeptiert und eingegangen wird. Hat ein Mensch Vorteile von einer riskanten Entscheidung, toleriert er mehr Risiken, sieht er Nachteile, treten die Risiken der Handlung mehr in den Vordergrund.

Belegt wird das durch viele Vorkommnisse im Bereich der Arbeitssicherheit: Unbequeme Schutzkleidung wird nicht getragen, subjektiv umständliche, aber korrekte und vorgeschriebene Vorgehensweisen zur Behebung von Störungen an Anlagen werden zugunsten einer einfacheren Problembehebung umgangen, das Image eines "Antisicherheitshelden" wird gepflegt, um in der Gruppe anerkannt zu sein.

 
Praxis-Beispiel

Umgang mit Vorschriften

Ein Beispiel, welches den Umgang mit Vorschriften und die Kosten-Nutzen-Abwägung einer Entscheidung verdeutlicht:

Ein junger Mann hat gerade seinen Führerschein erworben und bemüht sich um sicheres Verhalten. Er fährt auf einer belebten dreispurigen Straße außerhalb der Ortschaft mit der zulässigen Geschwindigkeit von 100 km/h. Dabei hält er, wie vorgeschrieben, einen Abstand zum Vordermann von 50 bis 60 Metern. Dieses sichere Verhalten wird nicht honoriert: ein anderes Fahrzeug schiebt sich dazwischen. Da er gut ausgebildet ist, stellt er den vorgeschriebenen Abstand wieder her. Erneut setzt sich ein Fahrzeug dazwischen. Dieser Vorgang wiederholt sich einige Male.

Wie würden Sie sich verhalten?

2.4 Freiwilligkeit und Beeinflussbarkeit einer Handlung

Die Bereitschaft, Risiken einzugehen, zu suchen oder zu vermeiden, hängt auch davon ab, ob man eine Handlung freiwillig oder gez...

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