Zum Thema Delegation von Verantwortung passt ein interessantes Experiment, welches der Verkehrsplaner Hans Monderman Mitte der 90er-Jahre in Drachten, einem 44.000-Einwohner- Städtchen westlich von Groningen im Norden der Niederlande, startete. Dort ließ er auf einem großen, viel befahrenen Platz in der Innenstadt alle Verkehrsschilder und Ampelanlagen abmontieren sowie Fahrbahnmarkierungen und Poller entfernen. Radwege waren nicht mehr als solche markiert und selbst Gehwege für Fußgänger gab es plötzlich nicht mehr. In Drachten galten von nun an nur noch 3 Gebote: Tempo 30, rechts vor links und gegenseitige Rücksicht.
Mit Blickkontakt und Handzeichen wird geregelt, wer zuerst geht oder fährt. Zum Erstaunen vieler blieben die Folgen einer solchen Verkehrsanarchie aus: Die Unfallzahlen stiegen nicht, die Anzahl der Verletzungen blieb konstant, verbale und tätliche Übergriffe fanden nicht statt und auch der befürchtete Verkehrszusammenbruch blieb aus.
Die Idee war, mit einer Verkehrsraumgestaltung (oder besser Verkehrsraumnichtgestaltung) die Menschen aktiv in das Verkehrsgeschehen einzubinden. Dies führe zu mehr Aufmerksamkeit, Eigenverantwortung und Rücksichtnahme aller Verkehrsbeteiligten, so die Philosophie Mondermans.
Soziale Regeln und Umgangsformen treten an die Stelle der Befolgung von Verkehrszeichen und -regeln. Wenn alles reglementiert sei, sagt Monderman, nutze jeder gnadenlos seinen Raum. Wenn keiner Vorfahrt habe, sei jeder gezwungen, auf andere zu achten. "Das Verhalten der Menschen ändert sich, wenn man ihnen einen anderen Kontext gibt, auf den sie sich bezogen fühlen. Früher zum Beispiel, da sah ein Dorf aus wie ein Dorf, es gab eine Kirche, einen Laden, eine Schule und so weiter, man konnte die Straße lesen wie ein Buch. Aber die Verkehrsingenieure haben unsere Straßen uniform ausgestattet und so sieht ein Dorf aus Sicht eines Pkw-Fahrers aus wie das andere. Also muss man alles auf Schildern erklären. Das ist doch Wahnsinn."
Der Leitgedanke, dass "Unsicherheit Sicherheit schafft", wurde auch von anderen Ländern übernommen und lässt den Schluss zu: Je mehr der Mensch in die Verantwortung genommen wird, desto verantwortungsbereiter ist er. Freiwillige Verhaltensänderungen zugunsten der Verkehrssicherheit lassen sich auch ohne Druck, Kontrollen und Strafen erzielen, wenn man den Menschen Freiheiten ermöglicht.
Allerdings hat "Shared Space" auch Grenzen: Auf Autobahnen etwa sind Kraftfahrzeuge nicht Gast des öffentlichen Raums wie in der Innenstadt, sondern der Hausherr.