Dipl.-Ing. Cornelia von Quistorp
1.1 Baurecht
Die Bauordnungen der Länder definieren als Schutzziel, dass "die Rettung von Menschen und Tieren sowie wirksame Löscharbeiten möglich" sein müssen. Die Verkehrswege in einem Gebäude, die das möglich machen, werden im Baurecht Rettungswege genannt.
Alle Aufenthaltsräume (Räume, in denen sich Menschen nicht nur gelegentlich aufhalten) müssen 2 voneinander unabhängige Rettungswege haben. Bei größeren Gebäuden heißt das z. B., dass der an einen Raum angrenzende Flur in beiden Richtungen jeweils in ein Treppenhaus, an eine Tür ins Freie oder in einen anderen gesicherten Bereich (benachbarter Brandabschnitt) mündet. Bei kleineren Gebäuden besteht der sog. zweite Rettungsweg meist in der sog. Anleitermöglichkeit für die Feuerwehr (ausreichend großes, gut erreichbares Fenster, Balkon usw.). Wie der zweite Rettungsweg realisiert wird, wird bei der Bauabnahme eines Gebäudes festgelegt und hängt von der erwarteten Personenzahl im Gebäude, vom Gefährdungspotenzial und weiteren örtlichen Gegebenheiten ab.
Die Bestimmungen der Landesbauordnung gelten prinzipiell für alle Gebäude, wobei nur vergleichsweise wenig allgemeingültige Vorgaben zu Rettungswegen gemacht werden. Konkretisierungen finden sich in unterschiedlichsten spezifischen Richtlinien für verschiedene Gebäudetypen und -größen, z. B. für sehr kleine oder sehr große Gebäude, Gebäude bestimmter Nutzung, Altbauten usw.
Ggf. werden auch Vorgaben im Rahmen des einzelnen Genehmigungsverfahrens gemacht.
1.2 Arbeitsschutzrecht
Die Arbeitsstättenverordnung und die ASR A2.3 "Fluchtwege und Notausgänge" verwenden im Gegensatz zum Baurecht den Begriff Fluchtweg, weil im Vordergrund das Bestreben liegt, die selbstständige Flucht von Beschäftigten aus den Arbeitsräumen möglichst sicherzustellen. Fluchtwege im Sinne der ASR A2.3 sind auch die im Bauordnungsrecht definierten Rettungswege, aber nur, wenn sie selbstständig begangen werden können.
Nach ASR A2.3 gibt es im Einzelfall weitergehende Anforderungen an Fluchtwege und Notausgänge, als sie sich aus dem Baurecht ergeben. Das bezieht sich v. a. auf die Forderung, ggf. zusätzliche, selbstständig nutzbare sogenannte Nebenfluchtwege zu schaffen, wenn die Gefährdungsbeurteilung eine Notwendigkeit dazu ergibt.
Hingewiesen wird in diesem Zusammenhang auf Bereiche mit erhöhter Brandgefahr, hoher Personendichte oder großer Ausdehnung (Produktions- und Lagerbereiche mit mehr als 200 m², andere Arbeitsräume mit mehr als 400 m² u. a.).
Es wird dabei folgende Unterscheidung getroffen (Abschn. 3.1 ASR A2.3):
- Hauptfluchtwege (bisher erste Fluchtwege) sind insb. die zur Flucht erforderlichen Verkehrswege, die nach dem Bauordnungsrecht notwendigen Flure und Treppenräume für notwendige Treppen sowie die Notausgänge.
- Nebenfluchtwege (bisher zweite Fluchtwege) sind zusätzliche Fluchtwege, die ebenfalls ins Freie oder in einen gesicherten Bereich führen.
Nach Abschn. 4 Abs. 2 ASR A2.3ergibt sich die Notwendigkeit, ergänzend zu den baurechtlichen Bestimmungen einen zweiten, selbstständig nutzbaren Fluchtweg einzurichten, aus dem Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung. Möglicherweise kann es hier zu abweichenden Einschätzungen unter bau- bzw. arbeitsschutzaufsichtlichen Aspekten kommen.
Da es im Arbeitsschutzrecht im Vergleich zum Bauordnungsrecht in der ASR A2.3 viel mehr und detailliertere allgemeingültige Vorgaben zu Fluchtwegen gibt, wird im Folgenden der Begriff Fluchtwege verwendet.