Oliver Walle, Sarah Staut
Geht es um die Vorgehensweise bei der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen, lassen sich Leitlinien auf der Webseite der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) finden. Die Grundlage bildet die "Leitlinie Gefährdungsbeurteilung und Dokumentation", die vertiefenden Informationen zur Beurteilung der psychischen Belastungen finden sich in der "Leitlinie Beratung und Überwachung bei psychischer Belastung am Arbeitsplatz". Beide Dokumente vermitteln Arbeitgebern, Fachkräften für Arbeitssicherheit, Betriebsärzten und Dienstleistern ein Grundverständnis für die Vorgehensweise und zu prüfenden Merkmalsbereiche.
Die bisherigen Veröffentlichungen von offizieller Seite, aber auch weitere aus Literatur und Internet weisen folgende Gemeinsamkeiten und Empfehlungen auf:
- Es existiert ein klares Grundverständnis zwischen den Begriffen psychische Belastung und Beanspruchung, die aktuell der DIN-Norm 10075 zu entnehmen ist.
- Der Arbeitgeber ist verpflichtet zur Durchführung einer psychischen Gefährdungsbeurteilung, jedoch nur zur Beurteilung der Belastungen, nicht aber der Beanspruchungen.
- Auf Basis arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse lassen sich Merkmalsbereiche definieren, innerhalb derer eine psychische Fehlbelastung auftreten kann (vgl. Tab. 2). Grundsätzlich sind psychische Belastungen als neutral zu beurteilen.
- Sofern vorhanden, sind Betriebsräte in die Regelungen zur Gefährdungsbeurteilung einzubeziehen.
- Bei der Beurteilung von Belastungen können unterschiedliche Präzisionsstufen verwendet werden: Die "Leitlinie Beratung und Überwachung bei psychischer Belastung am Arbeitsplatz" unterscheidet hierbei in orientierende, Screening- oder Tiefenanalyse (sog. Expertenverfahren). Für den Einstieg in die Gefährdungsbeurteilung wird grundsätzlich die Orientierungs- bzw. Screeningstufe empfohlen.
- Je konkreter die Analyse, desto mehr sind Beschäftigte einzubinden. Dies kann in Form von Befragungen, Interviews, Workshops oder moderierten Gesprächsrunden erfolgen.
- Jedes Unternehmen sollte für seine Größe und die durchgeführten Tätigkeiten angemessene Beurteilungsverfahren selbst festlegen und dafür zu Beginn eine Übereinkunft zwischen den verpflichtend bzw. sinnvollerweise einzubeziehenden Akteuren (wie z. B. Arbeitgeber, Arbeitnehmervertretung, Arbeitsschutzexperten) hinsichtlich Ablauf und Methodik treffen.
- Beschäftigte und Führungskräfte sollten angemessen informiert werden.
- Bei der psychischen Gefährdungsbeurteilung sollten auch die Empfehlungen zur allgemeinen Vorgehensweise hinsichtlich (a) Ermitteln der Gefährdungen, (b) Beurteilen der Gefährdungen, (c) Festlegen konkreter Arbeitsschutzmaßnahmen nach dem Stand der Technik, (d) Durchführen der Maßnahmen, (e) Überprüfen der Wirksamkeit der Maßnahmen, (f) Fortschreiben der Gefährdungsbeurteilung (Dokumentation) berücksichtigt werden.
Die unter Tab. 2 aufgeführten Tätigkeitsmerkmale werden von der GDA als wesentliche Belastungsfaktoren deklariert und in einer von ihr entwickelten Checkliste aufgeführt. Diese steht Unternehmen zur Analyse von Arbeitsbereichen kostenlos zur Verfügung.
Bereich |
Merkmale |
Arbeitsinhalt |
- Vollständigkeit der Aufgabe
- Handlungsspielraum
- Variabilität (Abwechslungsreichtum)
- Information/Informationsangebot
- Verantwortung
- Qualifikation
- emotionale Inanspruchnahme
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Arbeitsorganisation |
- Arbeitszeit
- Arbeitsablauf
- Kommunikation/Kooperation
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soziale Beziehungen |
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Arbeitsumgebung |
- physikalische und chemische Faktoren
- physische Faktoren
- Arbeitsplatz- und Informationsgestaltung
- Arbeitsmittel
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neue Arbeitsformen |
- räumliche Mobilität
- atypische Arbeitsverhältnisse, diskontinuierliche Berufsverläufe
- zeitliche Flexibilisierung, reduzierte Abgrenzung zwischen Arbeit und Privatleben
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Tab. 2: Tätigkeitsmerkmale, innerhalb denen psychische Fehlbelastungen entstehen können
Betrachtet man die Entwicklung der Arbeitswelt hin zur "Version" 4.0 und der damit einhergehenden Digitalisierung, Technisierung und Prozessbeschleunigung, so ergeben sich zahlreiche neue Aspekte für neue oder veränderte Belastungen. Durch die in 2020 beginnende Corona-Pandemie erhöht sich darüber hinaus die Betrachtungsweise auf die psychischen Belastungen. Demnach muss auch diesen Veränderungen in der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen Rechnung getragen und ggf. auch neue Merkmale oder sogar Merkmalsbereiche hinzugefügt werden. Die Verlagerung der beruflichen Tätigkeit ins Homeoffice in bisher nie dagewesenem Ausmaß erfordert letztlich auch eine Betrachtung möglicher neuer Belastungen. Für Führungskräfte und Mitarbeiter ergibt sich auch die Herausforderung der Teamarbeit und von Führen auf Distanz. Wie diese neuen Herausforderungen zu bewerten sind, muss letztlich durch das Verfahren der Gefährdungsbeurteilung geprüft werden.