Dr. rer. nat. Gerald Schneider
Die Gefährdungsbeurteilung verwendet diverse Beurteilungsinstrumente, wobei sicher Grenz- und Auslösewerte sowie die Ergebnisse von Leitmerkmalmethoden eine wichtige Rolle spielen. Daneben sind auch Beschaffenheitsanforderungen (z. B. an Arbeitsstätten, technischen Einrichtungen etc.) von Bedeutung. Bei der Ableitung dieser Beurteilungshilfen wurden und werden durchaus Risikobetrachtungen vorgenommen, wie 2 Beispiele verdeutlichen mögen:
Lärm
Bei der Beurteilung von betrieblichem Lärm durch entsprechende Messungen sind 3 Bereiche definiert worden, die mit steigender Wahrscheinlichkeit eines irreversiblen Gehörschadens verbunden sind. Unter 80 dB(A) als 8-Stunden-Mittel ist diese Wahrscheinlichkeit gering (aber nicht "Null"). Zwischen 80 und 85 dB(A) besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für diesen Schaden und ab 85 dB(A) ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch. Dementsprechend sind gestufte Maßnahmenkonzepte entwickelt und normativ festgelegt worden.
Krebserzeugende Gefahrstoffe
Ähnlich verhält es sich bei den Expositions-Risiko-Beziehungen beim Umgang mit krebserzeugenden Gefahrstoffen. Unterhalb der Akzeptanzschwelle liegt das Risiko, eine Krebserkrankung zu bekommen, bei kleiner 1:2500, bei Überschreiten der oberen Toleranzschwelle dagegen bei größer als 1:250.
Dies trifft auch auf die Grenz- und Auslöseschwellen im Gefahrstoffbereich, bei Vibrationen, optischer Strahlung, elektromagnetischen Feldern, bei den Leitmerkmalmethoden für Heben und Tragen, Ziehen und Schieben und etlichen anderen Beurteilungswerten zu. Auch für Arbeitsmittel und andere Produkte werden z. B. mit den RAPEX-Risikoanalysen durch Spezialisten Gefährdungen für ein bestimmtes Produkt erarbeitet und bekannt gegeben.
D. h., bei der praktischen Gefährdungsbeurteilung werden durch Anwendung von Beurteilungskriterien durchaus Ergebnisse von Risikobewertungen angewendet, aber – und hier liegt der wichtige Unterschied – sie werden nicht im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung erarbeitet. RAPEX wird nicht im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung wiederholt, sondern deren Ergebnisse zur Beurteilung genutzt.
Allen diesen genannten Risikobewertungen liegen medizinisch-epidemiologische Daten, Statistiken sowie die wissenschaftliche Reflexionen und Diskurse von Fachleuten zugrunde, nicht aber die "Daumenpeilung" von Betriebsverantwortlichen mithilfe fadenscheiniger Instrumente. Auch die Beschaffenheitsanforderungen werden durch die Fachkreise so konzipiert, dass die Wahrscheinlichkeit eines Schadens möglichst gering ist.
Dabei lehrt aber z. B. die Geschichte des allgemeinen Staubgrenzwertes, dass auch Risikobetrachtungen der Fachleute nicht eine "absolute Wahrheit" darstellen, sondern im Zuge neuerer Erkenntnisse revidiert werden müssen. So lag der Allgemeine Staubgrenzwert für die alveolengängige Fraktion (früher "Feinstaub" genannt) 1984 bei 6 mg-3, wurde dann auf 3 mg-3 abgesenkt, um heute 1,5 mg-3 zu betragen. Das ist immerhin ein Faktor 4.
Auch aus diesen Erwägungen heraus besteht das Arbeitsschutzgesetz auf dem prinzipiellen Minimierungsgebot und – vielleicht sogar noch wichtiger – dem Primat der Quellenbeseitigung. Nicht der Staubgrenzwert soll eingehalten werden, sondern die Staubentwicklung vermieden werden. In der Gefährdungsbeurteilung ist daher zu prüfen, ob es zu einem Staubanfall kommen kann, aber nicht, mit welcher Wahrscheinlichkeit dieser auftreten wird.