Dr. rer. nat. Gerald Schneider
Aus dem Gesagten wird deutlich, dass Risikoanalysen nur dann sinnvoll sein können, wenn es entsprechende Datengrundlagen gibt. Schätzungen sind grundsätzlich abzulehnen, da sie ein stark subjektives Element enthalten, das je nach Einstellung zu Risiken im Allgemeinen, dem jeweiligen Kenntnis- und Ausbildungsstand etc. zu unterschiedlichen Urteilen führen kann. Leben und Gesundheit der Arbeitnehmer sind aber ein grundgesetzlich festgelegtes Rechtsgut (Art. 2 Abs. 2 GG) und zu wichtig, um den Zufällen inadäquater Schätzungen überlassen zu werden.
Aus diesem und anderen Gründen sind Risikobetrachtungen von Seiten des Gesetzgebers in der Gefährdungsbeurteilung nicht vorgesehen. Dies trägt auch dem Umstand Rechnung, dass die meisten Arbeitsschutzakteure weder die Daten noch die Fähigkeiten haben, Risiken im Unternehmen objektiv einzuschätzen.
Wenn im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung Risikoabschätzungen zum Tragen kommen, dann die, die durch die wissenschaftlichen Kreise aufgrund entsprechender Datengrundlagen ermittelt und in Grenz- und Auslösewerten oder anderen Kriterien abgebildet wurden. Diese werden aber eben nicht im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung erarbeitet, sondern deren Erkenntnisse dort lediglich zur Anwendung gebracht.
Dabei sind – generell gesprochen – die Gefährdungsbeurteilung und die Risikoanalyse 2 entgegengesetzte Herangehensweisen. Während die Risikoanalyse versucht, die Wahrscheinlichkeit bestimmter Ereignisse zu bestimmen, dient die Gefährdungsbeurteilung lediglich dazu, kritische Ereignisse zu erkennen. Sie kann daher auch gleichzeitig viele Faktoren berücksichtigen, was bei der Risikoanalyse im Grundprinzip nicht vorgesehen ist.
Gerade die prinzipielle Quantifizierung zwingt die Risikoanalyse in die Spezifizierung und in die Komplexität, denn eine Wahrscheinlichkeitsaussage, dass "irgendeine Art" von Unfall passieren kann, ist wenig hilfreich in diesem Kontext. Es geht darum, die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Schadens oder eines bestimmten Ereignisses zu erfassen. Diese Spezifizierung lässt aber andere Szenarien nicht zu, es sei denn, in einem sehr aufwendigen Prozess werden alle möglichen Fälle durchgespielt.
Ein Leitersturz kann z. B. durch ein Umfallen der Leiter aufgrund eines falschen Anstellwinkels erfolgen, aber auch durch ein Zusammenbrechen der (maroden) Leiter, durch Nachgeben des Untergrundes usw. Die Risikoanalyse müsste also – um vollständig zu sein – zunächst alle möglichen Gründe für einen Leitersturz erfassen, jeweils die Einzelrisiken ermitteln und Maßnahmen gegen alle identifizierten und spezifizierten Risiken treffen. Die alleinige Konzentration auf ein mögliches Ereignis wäre nicht sachgerecht, da sie die anderen ausschließt. Die Gefährdungsbeurteilung sieht dies anders: Aus den Erfahrungen ist bekannt, welche Faktoren zu einem Leitersturz führen können, es wird eine Leiter verwendet, also sind (die bekannten) Maßnahmen gegen den Absturz zu ergreifen.
Da die Gefährdungsbeurteilung auf einem breiten Fundus an arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen fußt, ist sie gewissermaßen eine Stufe weiter als die Risikoanalysen. In unserem Kontext schaffen durch Fachleute erarbeitete Risikobetrachtungen die Grundlagen, um Gefährdungsbeurteilungen sicher durchführen zu können, wie die beiden oben genannten Beispiele zeigen. Die Gefährdungsbeurteilung besteht dann in der Identifizierung von Gefährdungen und der Anwendung der Ergebnisse von Risikobetrachtungen, aber – wie schon gesagt – nicht in der Erarbeitung dieser Grundlagen.
Aber selbst dort, wo keine normierten Werte genannt sind, ist die Bestimmung der Eintrittswahrscheinlichkeit nicht erforderlich. Wenn ein Handwerker freistehend auf der Leiter über Kopf in die Zimmerdecke bohrt, reicht es vollkommen, die Absturzgefahr und mögliche Folgeschäden (z. B. dass die Bohrmaschine auf den Kopf fällt) zu bedenken und mit Maßnahmen zu belegen.
Beide Herangehensweisen unterscheiden sich aber auch in ihrer ethisch-philosophischen Ausrichtung. Praktisch alle Risikokonzepte, auch die der DIN ISO 45001:2018-06 , kennen das Konstrukt des "akzeptablen Risikos", also eines sicher geringen, aber durch die Verantwortlichen grundsätzlich gebilligten Risikos. Dies ist in einem gesellschaftlichen Kontext wahrscheinlich die einzig mögliche Art, mit Risiken umzugehen. Die Frage ist aber, wer hier was akzeptiert. Bei allgemeinen Lebensrisiken, Risiken im Bereich Umwelt, des Verkehrs, des Gesundheitswesen usw., übernimmt dies die Politik als zumindest theoretische Repräsentation des Volkswillens.
Bei der Anwendung im Betrieb wäre dies aber die Organisation, der Arbeitgeber etc. Dies würde zur Konsequenz haben, dass das o. g. Grundrecht nach Art. 2 Abs. 2 GG durch den Arbeitgeber eingeschränkt würde, wenn er sich nicht auf gesetzlich normierte Regelungen zurückzieht. Dieses Recht steht ihm aber nicht zu. Die einfache Risikobetrachtung mittels Matrix-Methoden und dann insbesondere die Frage eines akzeptablen Risikos könnten daher Eingriffe in Grundrechte...