Dr. rer. nat. Gerald Schneider
2.1 Frage 1: Benötige ich überhaupt eine Risikoanalyse?
Zunächst sollte kritisch geprüft werden, ob überhaupt eine Risikoanalyse erfolgen soll. Welche zusätzlichen Informationen zur Gefährdungsbeurteilung sind dadurch zu erwarten und werden diese wirklich benötigt? Im obigen Beispiel wird im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung eine mögliche Körperdurchströmung mit Todesfolge festgestellt. Dies reicht bereits aus, um wirksame Maßnahmen einleiten zu können, denn ob die Wahrscheinlichkeit für den Todesfall hoch oder niedrig ist, spielt keine Rolle. Allein die Tatsache, dass es zu diesem Fall kommen kann, reicht nach dem Arbeitsschutzgesetz aus, sofort Maßnahmen einzuleiten. Das häufig vorgebrachte Argument, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit ein "Guide" für die Rangfolge der Maßnahmen sein kann, sticht nicht, denn eine Rangfolge lässt sich auch über die Schäden erstellen.
Dabei ist zu bedenken, dass die Zahl der Fehlerquellen mit der Anzahl der Schätzparameter steigt. Die Wahrscheinlichkeit von Fehleinschätzungen ist höher, wenn ich sowohl den Schaden als auch die Eintrittswahrscheinlichkeit prognostizieren soll, als wenn nur der Schaden allein benannt werden muss.
Es sollte daher immer geprüft werden, ob eine Risikobetrachtung sinnvoll ist und ob erforderliche und handlungsleitende Zusatzinformationen zur Gefährdungsbeurteilung durch die Einbeziehung der Eintrittswahrscheinlichkeit erlangt werden. Gesetzlich vorgesehen sind derartige Betrachtungen nicht, allerdings werden sie ggf. im Rahmen von Zertifizierungen gefordert. Es ist also häufig auch eine Frage des Anwendungskontextes, ob Risikoanalysen erforderlich sind oder nicht.
2.2 Frage 2: Welches Modell?
Hat man sich für eine Risikoanalyse entschieden, ist als nächstes festzulegen, welchem Modell gefolgt werden soll. Grundsätzlich sind – wie bereits angedeutet – 2 Varianten möglich:
- Nach der Maschinennorm DIN EN ISO 12001 wird die Eintrittswahrscheinlichkeit auf die Schäden bezogen, also z. B. gefragt, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Überdruckventil versagt.
- Nach der OHSAS 18001 bezieht sich die Eintrittswahrscheinlichkeit auf das unerwünschte Ereignis oder die unerwünschte Exposition, also z. B. die Körperdurchströmung. Ähnlich ist es in der DIN ISO 45001 geregelt.
Die Frage nach dem Modell ergibt sich dabei häufig bereits aus dem Kontext, denn die Konstrukteure von Maschinen müssen sich schon an die grundlegenden Normen halten, bei Risikobetrachtungen im Bereich des allgemeinen Arbeitsschutzes ist dies jedoch nicht in diesem strengen Maß erforderlich.
Typischerweise sind unerwünschte Ereignisse oder Expositionen leichter zu überblicken als die Schäden, weil es hier in einem sehr viel höheren Maß auch von Zufälligkeiten abhängt, wie der Schaden konkret ausfällt.
Es sei aber bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass in der Praxis die konsequente Umsetzung eines einzigen Modells nicht möglich sein wird. Wir werden immer mit einer Mischung aus Wahrscheinlichkeitsbestimmungen für unangenehme Ereignisse und für Schäden arbeiten müssen. Letzteres schon deshalb, weil es eine nicht geringe Zahl gesetzlich geregelter Eintrittswahrscheinlichkeiten gibt, die immer angewendet werden müssen und die sich auf Schäden beziehen. Mehr dazu unter Frage 5 und Abb. 3.
2.3 Frage 3: Wie viele Kategorien?
Risikoeinstufungen erfolgen i. d. R. kategorial, also z. B. in Klassen wie "Niedrig", "Mittel", "Hoch", wobei meist die gleiche Anzahl an Kategorien für Schäden/unerwünschte Ereignisse und die Eintrittswahrscheinlichkeiten verwendet wird. Dadurch entstehen n-x-n-Matrices, wie sie in vielen Handlungshilfen zu finden sind (n = Anzahl der Kategorien).
Vor der Durchführung einer Risikobetrachtung ist also zu prüfen, wie viele Kategorien veranschlagt werden sollen. In der Literatur finden sich Matrices mit 3 x 3 bis zu 6 x 6 Kategorien. Der Autor würde hier Bescheidenheit anmahnen und lediglich jeweils 3 Kategorien empfehlen (z. B. niedrig – erhöht – hoch), denn es müssen klare und nachvollziehbare Kriterien angewendet werden, die so eindeutig sind, dass sie auch nach Jahren noch nachvollzogen werden können. Eine Überdifferenzierung in zu viele Kategorien ist häufig mit mehr Problemen belastet als das daraus ein Nutzen gezogen werden kann.
Kategorienstafetten wie "niedrig – erhöht – mittel – hoch – sehr hoch" provozieren natürlich immer die Frage, wie denn die einzelnen Kategorien beschrieben sind, wie sie auseinandergehalten werden können und ob eine wirklich trennscharfe Zuordnung erfolgen kann. Sind unsere Betrachtungen/Erhebungen so differenziert und derart mit Kriterien hinterlegt, dass ein so komplexes System sicher "bedient" werden kann? Oder verleitet es eher zu Ungenauigkeiten und Haarspaltereien, die für die Maßnahmenfindung unerheblich sind?
Generell sei dem Leser eingeschärft, dass Risikoanalysen kein Selbstzweck sind, sondern lediglich dazu dienen, Maßnahmen des Arbeitsschutzes nach § 3 ArbSchG zu erreichen. Die Risikobewertung darf nicht zur Kunst um ihrer selbst willen verkommen. Was nützen 6 Kategorien, wenn ich nur 2 oder 3 Maßnahmenoptionen habe?
Das sehen offensichtlich auch die Au...