Sieben Mythen der Achtsamkeit

Der populäre Begriff Achtsamkeit wird viel zitiert und oft missverstanden. Was ist dran am Trend und was können Achtsamkeits-Angebote in Unternehmen bringen? Alexandra Wessels ist Beraterin für Gesundheitsmanagement gibt Auskunft und nimmt dabei mit sieben Mythen der Achtsamkeit unter die Lupe.  

Mythos 1: Achtsamkeit ist eine Entspannungstechnik

Achtsamkeit wird gern verordnet als kleine, wirksame Intervention, die für Entspannung sorgt und das Funktionieren wieder ermöglicht. Tatsächlich gehen Achtsamkeitsübungen oft mit Entspannung einher. Diese ist aber ein Nebeneffekt. Ziel ist weniger das Ansteuern des Angenehmen als das Wahrnehmen des Moments, wie er sich eben gerade zeigt. Dies schließt auch schwierige Erfahrungen mit ein.  Einen Moment, den ich bewusst bemerke, kann ich gestalten, statt in Automatismen zu landen. In der Summe der Momente verändert sich damit mein Handeln substanziell.

Übersetzt für Unternehmen heißt das:
Durch das regelmäßige Üben von Achtsamkeit entsteht bei den Mitarbeitenden ein Zugewinn an Präsenz, Selbsterkenntnis und Handlungsfreiheit.  

Mythos 2: Achtsamkeit ist Vorsicht und Umsicht

Achtsam wird im allgemeinen Sprachgebrauch wie „aufpassen“ verstanden: „Oh, da war ich unachtsam.“ In der Tat wären mit mehr Achtsamkeitspraxis viele Arbeitsunfälle, Krisen und Eskalationen vermeidbar. Dabei geht es aber nicht um den Appell, Vorsicht walten zu lassen. Vielleicht können wir Achtsamkeitspraxis eher als neurobiologisch wirksames Training betrachten. Also als Gehirntraining, das über Wahrnehmung und Fokus innere Vernetzungen verändert – und so neue Steuermöglichkeiten entstehen lässt.

Übersetzt für Unternehmen heißt das:
Achtsamkeit kann zu mehr Arbeitssicherheit führen. Vor allem stärkt sie die innere Sicherheit der Einzelnen – und damit in Summe die des gesamten Betriebs.

Mythos 3: Achtsamkeit ist ein Esoterik-Trend

Achtsamkeit hat seine Wurzeln im Buddhismus, ist aber weder geheimnisvoll noch mystisch. Welche Auswirkungen Achtsamkeitspraxis auf Körper und Gehirn hat, wurde vielfach fundiert untersucht. Aus wissenschaftlicher Sicht lohnt es sich, das Gehirn mit Achtsamkeit zu trainieren. Das Training wirkt sich neuronal aus, z. B. im Ausbau der Dichte der grauen Substanz, im orbitofrontalen Kortex, der maßgeblich an der Steuerung unserer emotionalen Reaktionen beteiligt ist, und in einem Schrumpfen des Mandelkerns, der Amygdala, die für automatisierte Alarmreaktionen zuständig ist. So wird auch in Stresssituationen eine bessere Selbstregulation möglich.

Übersetzt für Unternehmen heißt das:
Der Umgang mit Stress und herausfordernden Situationen im Miteinander wird bei Beschäftigten aus der Tiefe heraus gestärkt.

Mythos 4: Achtsamkeit ist Sitzen statt Handeln

Das Gegenteil ist der Fall: Achtsamkeit ist die Grundlage für Handeln. Mit klarer Wahrnehmung nach außen wirken kann nur, wer gelernt hat, auch seine inneren Wellen zu reiten. Im Arbeitsalltag ereignet sich ständig etwas, auf das wir mit automatisierten individuellen Fühl-, Denk- und  Verhaltensprogrammen reagieren. Wenn ich mich vom automatisch ablaufenden Reiz-Reaktion-Reflex leiten lasse, bestimmt das auch meine Strategie. Durch Achtsamkeitspraxis können wir wirklich handeln, statt im Hamsterrad getrieben zu sein. 

Übersetzt für Unternehmen heißt das:
Wenn es um die Gestaltung von Veränderung und Zukunftsthemen geht, ist Achtsamkeit eine wichtige Grundlage.

Mythos 5: Achtsamkeit funktioniert sofort

Viele haben die Erwartung, dass sie sich nach einer Achtsamkeitsübung auf eine bestimmte Weise fühlen wollen, zum Beispiel besser oder entspannter. Klappt das nicht, ist oft zu hören: „Achtsamkeit habe ich ausprobiert. Das funktioniert bei mir nicht.“ Doch Achtsamkeit ist eher eine Evolution als eine Revolution. Sie wird wie ein Muskel trainiert: Je regelmäßiger ich trainiere, umso eher nehme ich Ergebnisse wahr.

Für Unternehmen bedeutet das:
Achtsamkeit ist mehr Tiefenarbeit als Tool und fördert Persönlichkeitsentwicklung.

Mythos 6: Mit Achtsamkeit kann ich den Autopiloten abschalten

 Eine weitere Vorstellung ist, dass ich mit Meditation den Autopiloten aus- und die Gedanken abschalten kann. Das ist weder Zweck der Achtsamkeitspraxis, noch ist es möglich. Achtsamkeitsübungen wirken über das Bemerken, Benennen und Bejahen: Ich nehme Gedanken, Körperempfindungen und Gefühle wahr und verarbeite sie anders. In Bezug auf Gedanken heißt das z. B., dass ich Gedanken bewusst wahrnehme und dann die Wahl habe, mich von ihnen zu distanzieren oder meinen Standpunkt zu verändern. Ich bin meinen Gedanken und Gefühlen also nicht ausgeliefert, sondern kann sie als das erkennen, was sie sind – ohne sofort handeln zu müssen. Forschungen haben zudem gezeigt, dass sich Menschen mit Achtsamkeitspraxis von Emotionen und schmerzhaften Erfahrungen schneller erholen.

Übersetzt für Unternehmen heißt das:
Achtsamkeitstraining schafft neue, nützliche Autopiloten und stärkt dadurch Resilienz.

Mythos 7: Achtsamkeit ist Nabelschau und bringt einem Unternehmen nichts

Würden Firmen wie Bosch, Continental oder Google seit Jahren ausgedehnte Achtsamkeitsprogramme durchführen, wenn das so wäre? Um in komplexen und krisenhaften Umgebungsbedingungen erfolgreich zu sein, brauchen Unternehmen Führungskräfte und Mitarbeitende, die flexibel sind, sich im Team mit anderen abstimmen, zügig zusammen kreative Lösungen finden und zielführende Entscheidungen treffen. Das braucht Menschen, die gelernt haben, innere Stress-Automatismen zu stoppen, um die Situation bewusst neu zu betrachten und Optionen abzuwägen, bevor sie eine Entscheidung treffen.

Übersetzt für Unternehmen heißt das:
Ein Achtsamkeitsprogramm ist eine lohnende Investition, wenn es darum geht, Mitarbeitende und Führungskräfte zu befähigen. Achtsamkeit ist Basiskompetenz, egal, ob es um Change, Konfliktkultur, Zusammenarbeit in Teams oder Führungskräfteentwicklung geht. Mit dem richtigen Ansatz kann sie durchaus zum Zaubertrank werden.

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