Rn. 17

Stand: EL 36 – ET: 06/2022

Die Frage nach der abstrakten Passivierungsfähigkeit ist grds. gleichbedeutend mit der Frage nach dem Vorliegen einer Schuld, die ihrerseits als Oberbegriff für die Verbindlichkeiten und Rückstellungen angesehen wird (vgl. Freericks (1976), S. 224ff.); allerdings kommt eine Passivierungsfähigkeit auch ohne Vorliegen einer Schuld in Betracht (vgl. so bei RAP und passiven latenten Steuern).

Der Begriff der Schuld muss wirtschaftlich aufgefasst werden (vgl. Freericks (1976), S. 225). Die wesentlichen Merkmale, die für das Existieren einer Schuld gefordert werden, sind (vgl. zu dieser Einteilung auch HdB (2020), Stichwort-Nr. 146, Rn. 19ff.):

(1) Vorliegen einer wirtschaftlichen Belastung: Während die wirtschaftliche Belastung bei gegenseitigen Verträgen – wegen des Nichtausweises schwebender Geschäfte – i. d. R. nach Erbringung der Leistung des Vertragspartners entsteht, wird eine wirtschaftliche Last bei Sachverhalten, bei denen keine gegenseitigen Verträge bestehen, durch den Eintritt von Ereignissen oder die Verwirklichung von Tatbeständen begründet, die zu Ansprüchen Dritter führen (vgl. Freericks (1976), S. 228). Erforderlich ist grds. das Vorhandensein eines Dritten als Anspruchsberechtigten (vgl. implizit ADS (1998), § 246, Rn. 104; explizit Gruber (1991), S. 183, 186; Müller-Dahl (1979), S. 87). Ob im Einzelfall eine Verpflichtung wirtschaftlich belastet, "hängt von der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der Leistungspflicht" (MünchKomm. AktG (1973), § 149, Rn. 49) ab.
(2)

Vorhandensein einer Leistungsverpflichtung: Eine Leistungsverpflichtung liegt nicht nur vor, wenn eine Verpflichtung rechtlich bereits entstanden ist, sondern auch dann, wenn vor dem BilSt Tatbestände eingetreten sind, die erkennbar eine zu erwartende Belastung gegenüber Dritten begründen bzw. wirtschaftlich veranlassen; dabei kommt es nicht darauf an, ob der Dritte seine Ansprüche bereits geltend gemacht hat oder ob er bereits Kenntnis davon hat (vgl. MünchKomm. AktG (1973), § 152, Rn. 56f.; Müller-Dahl (1979), S. 88). Angesichts des Abstellens auf die wirtschaftliche Verursachung stellt sich die Frage, ob bereits eine wirtschaftlich noch nicht, aber rechtlich schon entstandene Verpflichtung auszuweisen ist (vgl. bejahend und damit für das Abstellen auf den früheren von beiden Zeitpunkten Albach, in: StbJb (1967/68), S. 305 (314); ebenso Baetge/Kirsch/Thiele (2021), S. 176f.; dagegen Mies, DB 1970, S. 1798 (1800)).

Eine Leistungsverpflichtung besteht auch dann, wenn sich das UN einer Verpflichtung aus wirtschaftlichen, sozialen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann; deshalb wird z. B. bei beabsichtigten freiwilligen Gewährleistungen genauso wie bei verjährten Verpflichtungen, bei denen auf die Einrede der Verjährung verzichtet werden soll, und wie bei anderen rechtlich nicht verpflichtenden Leistungen eine Leistungsverpflichtung angenommen (vgl. Freericks (1976), S. 229; MünchKomm. AktG (1973), § 152, Rn. 50). Eine Leistungsverpflichtung ist also nicht nur bei bürgerlich-rechtlichen Verpflichtungen, sondern auch bei faktischem Leistungszwang oder Verpflichtungen gegenüber der öffentlichen Hand gegeben (vgl. ADS (1998), § 246, Rn. 104). Besteht keine entsprechende Wahrscheinlichkeit für die Inanspruchnahme des UN – wie z. B. bei aufschiebend bedingten Verbindlichkeiten, wenn mit dem Eintritt der Bedingung nicht zu rechnen ist, oder bei auflösend bedingten Verbindlichkeiten, wenn der Eintritt der auflösenden Bedingung gesichert erscheint, dann besteht auch keine Leistungsverpflichtung (vgl. MünchKomm. AktG (1973), § 149, Rn. 49; zum Hauptanwendungsfall der Eventualverbindlichkeiten ausführlich Freericks (1976), S. 234ff.). Eine Leistungsverpflichtung muss auch nicht unbedingt auf eine Geldleistung gerichtet sein; vielmehr kann die Verpflichtung zur Erbringung einer Sachleistung, wie z. B. die Verpflichtung zur künftigen unentgeltlichen Lieferung von Deputaten, auch eine Leistungsverpflichtung sein.

(3) Quantifizierbarkeit der Leistung: Eine Verpflichtung ist nicht nur dann quantifizierbar, wenn sie der Höhe nach gewiss ist – dann liegt eine Verbindlichkeit vor (vgl. HdR-E, HGB § 266, Rn. 141 ff.), sondern auch dann, wenn sie der Höhe nach ungewiss ist – dann ist eine Rückstellung zu bilden (vgl. HdR-E, HGB § 266, Rn. 125ff.).
(4) Selbständige Bewertbarkeit: Genauso wie für die Aktivierungsfähigkeit ist die selbständige Bewertbarkeit auch als Voraussetzung für die Passivierungsfähigkeit anzusehen, d. h., die wirtschaftliche Last muss als solche abgrenzbar und kann deshalb z. B. nicht Folge des allg. Unternehmerrisikos sein (vgl. Freericks (1976), S. 230). Auch auf der Passivseite – und hier insbesondere bei den Rückstellungen, die sich überwiegend aus ungewissen Verbindlichkeiten ergeben – ist das Prinzip der Greifbarkeit zu beachten, das – weil eine Schuld im Rechtssinne nicht erforderlich ist, sondern eine faktische Leistungsverpflichtung ausreicht – zu einer Begrenzung des Vorsichtsprinzips führt. Trot...

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