Dr. Eberhard Mayer-Wegelin, Prof. Dr. Harald Kessler
aa) Überblick
Rn. 291
Stand: EL 19 – ET: 05/2014
Dem Vorsichtsprinzip wird bei der Bewertung von Rückstellungen in der HB traditionell ein hoher Stellenwert eingeräumt. Von den unterschiedlichen Ausprägungen, die dieser Grundsatz annimmt (vgl. Fülbier/Kuschel/Selchert, HdR-E, HGB § 252), erweist sich das Prinzip der Bewertungsvorsicht als eine wichtige Entscheidungsregel für die Auswahl einer bestimmten Schätzgröße aus dem Spektrum der denkbaren Wertansätze für eine zu passivierende Verpflichtung.
Vorsichtige Bewertung als Leitgedanke bei der Festlegung einer Schätzgröße bedeutet allg., das Vermögen in der Bilanz im Zweifel eher zu niedrig als zu hoch darzustellen. Damit verbietet sich in erster Linie eine zu optimistische Betrachtung bei der Abwägung der den Wert einer ungewissen Verpflichtung bestimmenden Chancen und Risiken. Umgekehrt findet das Prinzip der Bewertungsvorsicht seine Grenze im Verbot der bewussten Legung stiller Reserven (vgl. Fülbier/Kuschel/Selchert, HdR-E, HGB § 252; Moxter, A. 1988, S. 941). Es berechtigt nicht dazu, aus mehreren zur Verfügung stehenden Schätzwerten stets den Ungünstigsten zu wählen.
Das Vorsichtsprinzip wirkt sich nicht nur auf die Schätzung des Zugangswerts einer ungewissen Verpflichtung aus (vgl. HdR-E, HGB § 249, Rn. 292). Es beeinflusst auch die Fortschreibung des ursprünglich angesetzten Erfüllungsbetrags im Zeitablauf. Dabei geht es um die Frage, inwieweit das HWP ein Unterschreiten des Zugangswerts aufgrund der zu jedem BilSt vorzunehmenden Neubewertung von Rückstellungen zulässt.
bb) Schätzung des Erfüllungsbetrags
Rn. 292
Stand: EL 19 – ET: 05/2014
Was vorsichtige Bewertung bedeutet, lässt sich nur in Abhängigkeit von der jeweiligen Bewertungssituation konkretisieren (vgl. zum Folgenden Bertram/Kessler 2013 § 253, Rn. 52). Kann bei einer einzeln zu bewertenden Verpflichtung für einen künftigen Ausgabenanfall ein Punktwert mit hoher Wahrscheinlichkeit oder Sicherheit angegeben werden, ist dieser der Rückstellungsbewertung zugrunde zu legen. Das betrifft Verpflichtungen, die der Höhe nach bekannt sind, deren Entstehen dem Grunde nach allerdings noch ungewiss ist. Beispiele sind Rückstellungen für voraussichtlich zu zahlende Vertragsstrafen, Urlaubsrückstellungen oder Steuerrückstellungen. Das Prinzip der Bewertungsvorsicht wirkt sich bei diesen praktisch nicht aus (vgl. Wohlgemuth, in: Bonner Handbuch 1994, § 253, Rn. 92).
Rn. 293
Stand: EL 19 – ET: 05/2014
Als problematisch erweist sich die Einzelbewertung ungewisser Schulden, für die sich lediglich eine Bandbreite möglicher Erfüllungsbeträge angeben lässt. Zu denken ist etwa an Sachleistungsverpflichtungen (z. B. Rekultivierungs-, Instandsetzungs- und Erneuerungsverpflichtungen, Verpflichtungen zur Beseitigung von Umweltschäden, Entfernungs- und Entsorgungsverpflichtungen), bei denen Ungewissheit über die künftige Preis- und Kostenentwicklung besteht. Auch bei zahlreichen Geldleistungsverpflichtungen lässt sich der Erfüllungsbetrag vielfach nur relativ grob angeben. Das gilt etwa für Ausgleichsverpflichtungen gegenüber Handelsvertretern nach § 89b, für drohende Inanspruchnahmen aus Bürgschaften oder für Sozialplanverpflichtungen, die noch durch eine Betriebsvereinbarung zu konkretisieren sind. Schubert schlägt vor, die betr. Verpflichtungen i. H. d. Betrags mit der höchsten Wahrscheinlichkeit zu passivieren. Diese Entscheidungsregel soll nur greifen, wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit des betreffenden Betrags wesentlich höher ist als die Eintrittswahrscheinlichkeit größerer Beträge innerhalb der Schätzbandbreite. Andernfalls soll ein größerer Betrag zurückzustellen sein. Sind verschiedene Werte mit der gleichen Eintrittswahrscheinlichkeit zu erwarten, verlangt nach seiner Auffassung das Vorsichtsprinzip den Ansatz des höchsten Werts (vgl. Schubert, in: Beck Bil-Komm. 2014, § 253, Rn. 155).
Rn. 294
Stand: EL 19 – ET: 05/2014
Ein Vorzug dieser Entscheidungsregel liegt in der von ihr ausgehenden Begründungsnotwendigkeit. Sie zwingt den Bilanzierenden, sich mit unterschiedlichen Szenarien auseinanderzusetzen und darzulegen, welche Annahmen der Rückstellungsschätzung zugrunde liegen. Zudem dürfte diese Bewertungsanweisung in der Theorie das Vorsichtsprinzip zutreffend interpretieren. Damit ist zugleich die Schwäche des Ansatzes angesprochen. Für die praktische Ermittlung des Rückstellungsbetrags erweist er sich in der Mehrzahl der Fälle als wenig hilfreich. Wie soll etwa der Betrag mit der höchsten Einrittswahrscheinlichkeit bei Ungewissheit bestimmt werden? Die gleiche Frage stellt sich im Hinblick auf den alternativ vorgeschlagenen Erwartungswert aller möglichen Ausgabenbeträge, der ggf. um eine (wie auch immer zu bestimmende) Vorsichtskomponente zu erhöhen ist (vgl. HdR-E, HGB § 249, Rn. 296ff.). Bewertungsanweisungen dieser Art sind nur dann umsetzbar, wenn – z. B. aufgrund betrieblicher oder branchenspezifischer Erfahrungen – belastbare Wahrscheinlichkeiten vorliegen. Unter dieser Voraussetzung spricht viel für den Ansatz des wahrscheinlichsten Werts. Eine Nebenbed...