Prof. Dr. Norbert Herzig, Prof. Dr. Simone Briesemeister-Dinkelbach
Rn. 371
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
Die Zweckmäßigkeit des Maßgeblichkeitsgrundsatzes wird vermehrt in Zweifel gezogen. Die Kritik berührt weniger den ursprünglich im Vordergrund gestandenen Aspekt einer Vereinfachung der steuerrechtlichen Gewinnermittlung durch die Anbindung an die HB oder das damit zugleich angestrebte vergleichsweise höhere Maß an Rechtssicherheit. Zentraler Ansatzpunkt der Kritik an der Maßgeblichkeit sind vielmehr die als divergierend erkannten Zielsetzungen von HB und StB, die einerseits darin gesehen werden, einen vorsichtig und objektiviert ermittelten, entnahmefähigen Gewinn zu bestimmen, während es andererseits um die periodengerechte Erfassung des "vollen", "richtigen" Periodengewinns als Maßgröße der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines UN geht (vgl. HdR-E, Kap. 3, Rn. 3). Ausgehend von der Zweckdivergenz von HB und StB werden die handelsrechtlichen GoB z. T. als wenig geeignete Grundlage für die steuerbilanzielle Gewinnermittlung gewertet (vgl. Weber-Grellet, DB 1994, S. 288 (289); Weber-Grellet, BB 1994, S. 30 (33); Weber-Grellet, Stbg 2001, S. 64 (75)). Speziell dem die handelsrechtliche RL dominierenden – dem Gläubigerschutzgedanken verhafteten – Vorsichtsprinzip wird eine Vereinbarkeit mit den Zwecken der Besteuerung abgesprochen; es verletze insbesondere die Zielsetzung einer entscheidungsneutralen Gewinnbesteuerung, die darauf abziele, positive und negative Wertänderungen gleichermaßen zu erfassen und demgemäß einen ökonomischen Gewinn zu besteuern (vgl. Wagner, StuW 1990, S. 3 (12f.); Ballwieser, BFuP 1990, S. 477 (489); Pezzer (1991), S. 17ff.; Doralt, DB 1998, S. 1357 (1358); Weber-Grellet, BB 1999, S. 2259 (2660)). Mit Blick auf eine als Folge des Grundsatzes der Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen GoB für die StB festgestellte Deformation des Steuerrechts wird angeregt, die gegenwärtige Anbindung an das Handelsrecht generell zu überdenken und die sachgerechte Kodifikation eines eigenständigen Bilanzsteuerrechts anzustreben (vgl. bereits Steuerreformkommission (1971), S. 421ff.; des Weiteren Weber-Grellet, DB 2016, S. 1279ff.; Müller-Gatemann, Ubg 2019, S. 19 (25); Prinz, StuB 2019, S. 1 (7f.); Schmidt: EStG (2022), § 5, Rn. 1; zu Konsequenzen für HB und StB Meyering/Gröne, StuW 2018, S. 28 (33ff.)).
Rn. 372
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
Für das geltende Bilanzrecht wird ausgehend von dieser Kritik eine restriktive Auslegung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes i. d. S. gefordert, dass dieser im Zweifel stets hinter dem grds. vorrangigen Steuerrecht und dessen Zwecksetzungen zurückzustehen habe. Die allg. handelsrechtlichen Bilanzierungsprinzipien dürften nicht zur Rechtfertigung systemwidriger Gestaltungsspielräume und Unterbewertungen in der StB missbraucht werden (vgl. Schulze-Osterloh, StuW 1989, S. 242 (247f.); Schulze-Osterloh, StuW 1991, S. 284 (285); Wassermeyer (1991), S. 39f.); Pezzer (1991), S. 18f., 26; Ahmann, in: FS Schmidt (1993), S. 269 (280ff.); Weber-Grellet, in: FS Schmidt (1993), S. 169ff.; Weber-Grellet, DB 1994, S. 288 (291)). Eine danach als sachgerecht abgeleitete eigenständige Interpretation handelsrechtlicher Normen i. R.d. Besteuerung, die insbesondere darauf abzielen soll, durch die handelsrechtlichen GoB offen gelassene Interpretationsspielräume nach steuerrechtlichen Regeln auszufüllen, ist mit dem Wortlaut des § 5 Abs. 1 EStG nur bedingt vereinbar (vgl. Beisse, BFuP 1990, S. 499 (508); Beisse, in: FS Beusch (1993), S. 77 (91); Korn, KÖSDI 1994, S. 9828 (9829); Mathiak, in: FS Beisse (1997), S. 323 (325ff.)). Mit dem Verweis auf die handelsrechtlichen GoB bindet das Gesetz die steuerrechtliche Gewinnermittlung allg. und in toto an die handelsrechtlichen Gewinnermittlungsgrundsätze. Dies – jedenfalls im Ursprung – auch zu dem Zweck, den Steuerpflichtigen vor einseitig fiskalisch motivierten Zugriffen zu schützen und damit die StB nicht zum Beutesymbol degenerieren zu lassen (vgl. Döllerer, BB 1988, S. 238ff.; Mathiak, in: FS Beisse (1997), S. 323 (330ff.); Groh, in: FS Börner (1998), S. 177 (184); mit Recht kritisch Schneider, DB 2000, S. 1241 (1244f.)). Damit verzichtet der Gesetzgeber aber gerade darauf, den besonderen Zwecken des Bilanzsteuerrechts a priori durch grds. Modifikation der in Bezug genommenen handelsrechtlichen GoB einschließlich deren handelsrechtlicher Interpretation Rechnung zu tragen. Dies hat wiederum zur Folge, dass neben dem eher selten angerufenen BGH v.a. der BFH mit der Klärung der ihm vorgelegten Steuerfragen zumeist zugleich auch über die Auslegung des geltenden HB-Rechts entscheidet (vgl. zur "Vorfragenkompetenz" des BFH Plaumann (2013), S. 162ff.). Das IDW weist (auch) dem BFH explizit GoB-Auslegungs- und Fortentwicklungskompetenz zu (vgl. IDW PS 201 (2021), Rn. 9: "Soweit Rechtsprechung [...] des Bundesfinanzhofs (BFH) zu bilanzsteuerlichen Fragen im Anwendungsbereich des Grundsatzes der Maßgeblichkeit (§ 5 Abs. 1 Satz 1 (1. Halbsatz) EStG) – und damit auch zu handelsbilanziellen Fragen – Bedeutung über den entschie...