Dr. Robert Weber, Julia Sieber
Tz. 72
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Ein Verzicht der Gesellschaft auf ihre Schadensersatzansprüche gegenüber einem Vorstandsmitglied oder ein Vergleich darüber kommt nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG erst drei Jahre nach Anspruchsentstehung in Betracht. Neben einem zustimmenden HV-Beschluss ist erforderlich, dass nicht eine Minderheit von 10 % des Grundkap. Widerspruch zur Niederschrift erklärt. Entsprechende Sonderregelungen bestehen im Recht der verbundenen UN nach den §§ 309 Abs. 3, 310 Abs. 4, 317 Abs. 4, 318 Abs. 4 und 323 Abs. 1 AktG.
Tz. 73
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Die Begriffe Verzicht und Vergleich richten sich nach bürgerlichem Recht (vgl. §§ 397 und 779 BGB). Erfasst sind auch Prozessvergleiche, Teilverzichte, ferner sonstige Rechtsgeschäfte mit vergleichbaren wirtschaftlichen Folgen, wie die Stundung, pactum de non petendo und Ausgleichsvereinbarungen zwischen einem Vorstandsmitglied und der Gesellschaft, nach denen alle Ansprüche der Gesellschaft bzw. alle gegenseitigen Ansprüche erledigt sein sollen (vgl. KK-AktG (2010), § 93, Rn. 167ff.; OLG München, Urteil vom 07.06.2018, 23 U 3018/17, AG 2018, S. 758 (761)). Grds. wirksam sind hingegen Abtretungen, Verpfändungen oder Aufrechnungen, sofern damit nicht das Vergleichs- oder Verzichtsverbot umgangen werden soll (vgl. Hölters-AktG (2022), § 93, Rn. 305). Eine solche Umgehung ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Schadensersatzanspruch unentgeltlich an einen Dritten abgetreten wird. Erhält die Gesellschaft hingegen bei einer Verfügung über den Schadensersatzanspruch eine nicht vollwertige Gegenleistung, so dürfte eine Umgehung zu verneinen sein. In diesem Fall können sich die verfügenden Vorstandsmitglieder aber nach § 93 AktG schadensersatzpflichtig machen (vgl. MünchKomm. AktG (1973), § 93, Rn. 67). Nicht erfasst von § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG ist die bloße (passive) Nichtgeltendmachung von Ersatzansprüchen durch den AR, was gleichwohl nur ausnahmsweise zulässig ist (vgl. BGH, Urteil vom 08.07.2014, II ZR 174/13, NZG 2014, S. 1058 (1059); bereits HdR-E, AktG § 93, Rn. 67). Auszuhandeln ist ein Verzicht bzw. Vergleich durch den AR (vgl. § 112 AktG), wobei diesem hier überzeugenderweise ein weiter Ermessensspielraum zuzubilligen ist (vgl. Bayer/Scholz, ZIP 2015, S. 149 (151ff.); Hüffer-AktG (2022), § 93, Rn. 106f.). Von einem Verzicht und Vergleich werden nicht nur die Schadensersatzansprüche der Gesellschaft nach § 93 Abs. 2f. AktG erfasst, sondern alle Schadensersatzansprüche, die in einem inneren Zusammenhang mit der Organstellung entstanden sind. Inwieweit sonstige Schadensersatzansprüche der Gesellschaft, z. B. aus Verträgen zwischen der Gesellschaft mit einem Vorstandsmitglied über Lieferungen, erfasst sind, kann zweifelhaft sein (vgl. OLG München Urteil vom 09.08.2018, 23 U 1669/17, AG 2019, S. 221 (222); AktG-GroßKomm. (2015), § 93, Rn. 522; KK-AktG (2010), § 93, Rn. 167; BeckOGK-AktG (2021), § 93, Rn. 339). Geltung beansprucht § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG nach der Rspr. auch für die Übernahme einer Geldstrafe, Geldbuße oder Geldauflage durch die Gesellschaft, wenn diese gegen das Vorstandsmitglied verhängt wurde und das Vorstandsmitglied gleichzeitig seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft verletzt hat (vgl. BGH, Urteil vom 08.07.2014, II ZR 174/13, NZG 2014, S. 1058 (1059f.)). Ob die Zustimmung der HV zu einer solchen Übernahme auch dann erforderlich ist, wenn das Vorstandsmitglied im Gegenzug seine umfassende Kooperation mit Behörden zusagt und hierdurch die Gesellschaft selbst einer Sanktion entgeht oder diese geringer ausfällt, ist allerdings fraglich (vgl. Weber/Schäfer, NZG 2020, S. 407 (409ff.); a. A. Hüffer-AktG (2022), § 93, Rn. 162ff.; Scholz, NZG 2020, S. 734ff.).
Tz. 74
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Erforderlich ist die Zustimmung der HV zu dem Verzicht oder Vergleich. Zweck der Regelung ist es, eine gegenseitige Haftungsbefreiung der Organe zu verhindern. Ohne die Regelung könnte der insoweit zuständige AR den Vorstand (und umgekehrt der Vorstand den AR) von der Haftung befreien. Ersatzpflichtige Vorstandsmitglieder, die zugleich Aktionäre der Gesellschaft sind, sind bei der Beschlussfassung über einen sie betreffenden Verzicht oder Vergleich nach § 136 Abs. 1 AktG nicht stimmberechtigt. Gleiches gilt für Vorstandsmitglieder, die für denselben Anspruch als Gesamtschuldner in Betracht kommen (vgl. Mertens, in: FS Fleck (1988), S. 209 (215); differenzierter AktG-GroßKomm. (2015), § 93, Rn. 507ff.). Die HV unterliegt bei der Beschlussfassung keinen inhaltlichen Bindungen (vgl. LG Frankfurt am Main, Urteil vom 15.12.2016, 3–05 O 154/16, Rn. 116 (juris)). Gegen den HV-Beschluss darf eine Minderheit von 10 % des Grundkap. keinen Widerspruch zur Niederschrift erklären. Nicht entscheidend ist demgegenüber das in der HV vertretene Kap.
Tz. 75
Stand: EL 36 – ET: 06/2022
Verzicht und Vergleich sind erst nach dem Ablauf einer Dreijahresfrist möglich. Zweck der Regelung ist es zum einen, eine vorschnelle Verfügung über den Anspruch zu einem Zeitpunkt z...