Dr. Alfred Simlacher, Dr. Stephan Vossel
Rn. 770
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
Bilanzierungsfehler bei latenten Steuern können grds. zur Nichtigkeit des festgestellten JA führen. Eine Nichtigkeit nach der zentralen Norm des § 256 Abs. 1 Nr. 1 AktG liegt vor, wenn der JA durch seinen Inhalt Vorschriften verletzt, die ausschließlich oder überwiegend zum Schutz der Gläubiger der Gesellschaft gegeben sind. Diese Tatbestandsmerkmale werden durch § 256 Abs. 4f. AktG begrenzt (vgl. MünchKomm. AktG (2021), § 256, Rn. 4; BGH, Urteil vom 15.11.1993, II ZR 235/92, NJW 1994, S. 520ff.), so dass nach § 256 Abs. 5 Satz 1 AktG die Nichtigkeit bei Verstoß gegen die Bewertungsvorschriften eintritt, wenn Bilanzpositionen über- oder unterbewertet sind und dadurch die Vermögens- und Ertragslage der Gesellschaft vorsätzlich unrichtig wiedergegeben oder verschleiert wird. Obwohl in diesem Zusammenhang nur Bewertungsvorschriften angesprochen werden, sind hierunter auch Ansatzverstöße zu subsumieren (vgl. MünchKomm. AktG (2021), § 256, Rn. 13, 58; AktG-Komm. (2020), § 256, Rn. 6; BGH, Urteil vom 15.11.1993, II ZR 235/92, NJW 1994, S. 520ff.). Vor diesem Hintergrund ist es auch zutreffend, die in § 256 Abs. 5 Satz 2f. AktG genannten handelsrechtlichen Bewertungsvorschriften der §§ 253 bis 256a nicht als abschließend anzusehen (vgl. MünchKomm. AktG (2021), § 256, Rn. 56; KK-AktG (2018), § 256, Rn. 69), sondern sämtliche Bewertungsvorschriften des HGB einzubeziehen. Daher kann eine fehlerhafte Bilanzierung latenter Steuern – unter Berücksichtigung der weiteren Voraussetzungen – zur Nichtigkeit des JA führen (vgl. mit wohl a. A. BilR-Komm. (2020), § 274 HGB, Rn. 55). Aus der zutreffenden Ausübung der in § 274 normierten Saldierungs- und Ausweiswahlrechte kann hingegen keine Nichtigkeit resultieren (vgl. allg. zu Ansatz- und Bewertungswahlrechten BeckOGK-AktG (2022), § 256, Rn. 68).
Rn. 771
Stand: EL 37 – ET: 09/2022
Als potenzielle Sanktion einer fehlerhaften Bilanzierung latenter Steuern werden weiterhin Verletzungen der Buchführungspflichten im Zusammenhang mit Insolvenzstraftaten angeführt (vgl. BilR-Komm. (2020), § 274 HGB, Rn. 56; Beck Bil-Komm. (2022), § 274 HGB, Rn. 95; MünchKomm. HGB (2020), § 274, Rn. 51). So wird mit Freiheitsstrafe (bis zu fünf Jahren) oder Geldstrafe bestraft, wer bei Überschuldung oder drohender bzw. eingetretener Zahlungsunfähigkeit entgegen dem Handelsrecht Bilanzen so aufstellt, dass die Übersicht über seinen Vermögensstand erschwert wird (vgl. § 283 Abs. 1 Nr. 7 lit. a) StGB). Unabhängig vom Vorliegen einer UN-Krise (vgl. AnwaltKomm. StGB (2020), Vorbemerkungen zu den §§ 283–283d, Rn. 3) wird dieser Sachverhalt zudem durch § 283b Abs. 1 Nr. 3 lit. a) StGB erfasst, wobei auch hier ein gefahrerhöhender Zusammenhang zwischen der Verletzung der Buchführungspflicht und einem (zukünftigen) Insolvenzsachverhalt gemäß § 283b Abs. 3 i. V. m. § 283 Abs. 6 StGB vorliegen muss (vgl. MünchKomm. StGB (2022), § 283b, Rn. 22). Die mangelhafte Aufstellung einer Bilanz resultiert aus einer Verletzung der Grundsätze der Bilanzwahrheit, -klarheit und -vollständigkeit, wobei für KapG und PersG gemäß § 264a auch die erweiterten Bilanzierungsgrundsätze der §§ 264ff. zu beachten sind (vgl. MünchKomm. StGB (2022), § 283, Rn. 52). Damit sind latente Steuern i. S. d. § 274 grds. geeignet, einen relevanten Straftatbestand auszulösen. Ob der Kaufmann die Darstellung seiner wahren Vermögensversverhältnisse durch eine unzutreffende oder unvollständige Bilanzierung von Steuerlatenzen in einem solchen Umfang beeinflussen kann, dass eine insuffiziente Bilanzaufstellung i. S. d. §§ 283, 283b StGB vorliegt, ist anhand des jeweiligen Einzelfalls zu entscheiden (vgl. zum Nichtansatz aktiver latenter Steuern in der Überschuldungsbilanz InsR-HB (2019), Kap. 3, Rn. 235ff.).
Rn. 772
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Bei Verletzungen des § 274 ist zudem die Einschlägigkeit von Straf- und Bußgeldvorschriften sowie Ordnungsgeldern gemäß der §§ 331ff. möglich (vgl. BilR-Komm. (2020), § 274 HGB, Rn. 56; Beck Bil-Komm. (2022), § 274 HGB, Rn. 95; HGB-PraxisKomm. (2020), § 274, Rn. 165). Diese Vorschriften greifen insbesondere für KapG und gemäß § 335b für haftungsbeschränkte PersG i. S. d. § 264a (vgl. Beck Bil-Komm. (2022), § 331 HGB, Rn. 1). Für Kaufleute, welche von diesen Normen nicht erfasst werden, enthalten die §§ 17ff. PublG – bei Einschlägigkeit – parallele Vorschriften (vgl. Beck Bil-Komm. (2022), § 331 HGB, Rn. 60; MünchKomm. HGB (2020), § 274, Rn. 51).
Rn. 773
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Gemäß § 331 Abs. 1 Nr. 1 wird zunächst mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe sanktioniert, wer als Mitglied des vertretungsberechtigen Organs oder AR die – i.W. wirtschaftlichen (vgl. Beck Bil-Komm. (2022), § 331 HGB, Rn. 17) – Verhältnisse des betreffenden UN im JA unrichtig wiedergibt oder verschleiert. Dabei handelt es sich um Verletzungen der Bilanzwahrheit bzw. Bilanzklarheit (vgl. MünchKomm. HGB (2020), § 331, Rn. 41). Dies wird häufig aus einer zu guten Darstellung (übermäßiger Ansatz bzw....