Prof. Dr. Dr. h.c. Jörg Baetge, Prof. Dr. Hans-Jürgen Kirsch
Rn. 104
Stand: EL 39 – ET: 06/2023
Neben den Definitions- und Ansatzgrundsätzen stehen die Kap.-Erhaltungsgrundsätze, nämlich das Imparitäts- und Vorsichtsprinzip, deren primärer Zweck darin besteht, eine bestimmte Form der nominellen Kap.-Erhaltung zu ermöglichen und damit die Gläubiger und andere Adressaten zu schützen. Die beiden Kap.-Erhaltungsgrundsätze sind in § 252 Abs. 1 Nr. 4 (1. Halbsatz) kodifiziert:
- Nach dem Imparitätsprinzip sind unrealisierte künftige negative Erfolgsbeiträge, soweit sie im abzuschließenden GJ verursacht sind, bereits in der abzuschließenden Periode zu antizipieren, indem sie als Aufwand in die GuV eingestellt werden.
- Das Vorsichtsprinzip verlangt vom Kaufmann, seine VG und Schulden vorsichtig zu bewerten. Es ist bei jenen Sachverhalten heranzuziehen, bei denen die künftige Entwicklung ungewiss ist.
Bei der früheren Interpretation der Kap.-Erhaltungsgrundsätze wurde der Kap.-Erhaltungszweck überbetont und der Rechenschaftszweck und damit die periodengerechte Erfolgsermittlung insoweit nicht berücksichtigt. Diese Deutung stand unter dem Motto "Vorsicht, Vorsicht über alles!" (Schneider, ZfbF 1967, S. 206 (214)). Dem Postulat der Gleichrangigkeit der JA-Zwecke (vgl. HdR-E, Kap. 2, Rn. 44) folgend, werden heute die Kap.-Erhaltungsgrundsätze so interpretiert, dass das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Zweckelementen nach dem Motto "Vorsicht mit Rücksicht auf die Rechenschaft" und umgekehrt "Rechenschaft mit Rücksicht auf die Vorsicht" aufgelöst wird.
Rn. 105
Stand: EL 39 – ET: 06/2023
Das Imparitätsprinzip (vgl. zur Entwicklung des Imparitätsprinzips grundlegend Koch, WPg 1957, S. 1ff.; Leffson (1987), S. 339ff.) verlangt vom Bilanzierenden, im JA "alle vorhersehbaren Risiken und Verluste, die bis zum Abschlußstichtag entstanden sind, zu berücksichtigen" (§ 252 Abs. 1 Nr. 4 (1. Halbsatz)). Durch diese vorgezogene (antizipierte) Verminderung des Jahreserfolgs um erwartete, aber noch nicht realisierte negative Erfolgsbeiträge aus eingeleiteten Geschäften (Verlustantizipation) wird erreicht, dass künftige Perioden von diesen negativen Erfolgsbeiträgen freigestellt werden und die abzuschließende Periode mit dem entsprechenden Aufwand belastet wird (vgl. Leffson (1987), S. 340). Die Gesellschafter bzw. Eigner des UN sollen durch diese Verlustantizipation dazu veranlasst werden, in dem abzuschließenden GJ einen entsprechend geringeren Betrag auszuschütten bzw. zu entnehmen, da dieser Betrag u. U. in Folgeperioden zur Deckung negativer Erfolgsbeiträge benötigt wird. Diese vorgezogene (antizipierte) Verminderung des Jahreserfolgs um negative Erfolgsbeiträge trägt einer vorsichtigen Gewinnermittlung Rechnung und dient der Kap.-Erhaltung. Zugleich beeinträchtigt das Imparitätsprinzip den Rechenschaftszweck des JA im Hinblick auf die Ermittlung eines vergleichbaren, periodengerechten Jahreserfolgs. So müssen nach dem Imparitätsprinzip negative Erfolgsbeiträge, die nach den Abgrenzungsgrundsätzen erst späteren GJ zuzurechnen wären, antizipiert werden (vgl. Koch, WPg 1957, S. 1 (4f.)). Eine Antizipation positiver Erfolgsbeiträge ist dagegen nach dem Realisationsprinzip unzulässig. Positive und negative Erfolgsbeiträge – d. h. die Beiträge, die die einzelnen Geschäfte zum Jahreserfolg leisten (vgl. Leffson (1987), S. 340) – werden also imparitätisch behandelt.
Um den Rechenschaftszweck nicht völlig zu konterkarieren, muss das Imparitätsprinzip auf die wenigen wirklich erforderlichen Fälle der Verlustantizipation beschränkt werden. Dies lässt sich durch eine am Grundsatz der Einzelbewertung orientierte und damit möglichst objektivierte Konkretisierung der zu antizipierenden negativen Erfolgsbeiträge erreichen. Eine solche Objektivierung ist möglich, wenn die beiden in § 252 Abs. 1 Nr. 4 (1. Halbsatz) genannten Bedingungen, nämlich erstens die Entstehung des Risikos bis zum Abschlussstichtag und zweitens die Vorhersehbarkeit, zweckgerecht interpretiert werden (vgl. Wagner (1989), S. 27ff.). Risiken sind dann als bis zum Abschlussstichtag entstanden anzusehen, wenn sich zum einen die Gefahr eines negativen Erfolgsbeitrags auf abgrenzbare und bereits eingeleitete Geschäfte bezieht, und zum anderen wenigstens eine der Ursachen bis zum Abschlussstichtag eingetreten ist, welche zum Eintritt des nachteiligen Ereignisses nach dem Abschlussstichtag führt (vgl. Baetge/Knüppe, in: HWuR (1986), S. 394 (397f.)). Geschäfte können durch die Beschaffung von Beständen oder den Abschluss von Verträgen i. S. v. zweiseitig unerfüllten Beschaffungs- oder Absatzverträgen (schwebende Geschäfte) eingeleitet werden (vgl. Leffson (1987), S. 394f.). Die Vorhersehbarkeit eines Ereignisses gilt dann als gegeben, wenn der Bilanzierende systematisch alle ihm zugänglichen Informationen bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Risikos geprüft hat (Inventur der Risiken) und diese Informationen den Eintritt eines Risikos wahrscheinlich erscheinen lassen (vgl. Leffson (1987), S. 222f.; Wagner (1989), S. 31ff.; Baetge/Knü...